Interview "Shakespeare trifft einen im Kern des Daseins"

Die Intendantin des Schauspielhauses in Hamburg, Karin Beier, spricht über die Modernität des Autors und verrät ihren liebsten Shakespeare-Satz.

Ist Shakespeare der Größte?

Beier Vor zehn Jahren hätte ich mit einer Antwort nicht gezögert. Natürlich sind Werke wie "Othello", "König Lear", "Was ihr wollt", "Hamlet", "Macbeth", "Richard III." unübertroffen. Aber wenn ich heute nüchtern auf diesen Autoren blicke, muss ich feststellen, dass seine Stücke nicht alle gleich gut sind. Bearbeiten muss man sie alle. Selbst die guten, die "Goodies". Die hätten ungekürzt eine Spieldauer von vielen Stunden. Das entspricht nicht mehr der Schnelligkeit unserer Zeit - auch wenn man dem nicht immer nachgeben darf. Einige Werke Shakespeares halte ich für fast unspielbar.

Welche?

Beier Ich tu mich schwer etwa mit "Wie es euch gefällt", "Ein Wintermärchen" oder "Der Widerspenstigen Zähmung". Das sind keine schlechten Werke, aber an ihnen muss man sich mehr die Zähne ausbeißen. Sie entwerfen Welten, die sehr weit weg sind von unseren. Etwa die Schäferwelten, die im elisabethanischen Zeitalter eine andere Bedeutung hatten. Auch viele komödiantische Szenen verstehen wir heute nur noch schwer. Humor ist immer zeitgenössisch, Witze verändern sich mit der Zeit - und mit den Übersetzungen. Und wenn man für eine Pointe erst die Fußnoten lesen muss, ist sie nicht mehr gut.

Ist es leichter, den komödiantischen Shakespeare zu inszenieren oder den tragischen?

Beier Der komödiantische ist nicht schwieriger, bedarf aber der größeren sprachlichen Überarbeitung. Außerdem muss man bei allen Shakespeare-Werken den Kosmos der Stücke neu erfinden. Es kommt dann darauf an, dass man Shakespeares Fantasiewelten in gute eigene Bildwelten übersetzt. Das ist vielleicht für einen jüngeren Regisseur einfacher als für einen älteren.

Wieso das?

Beier Ich kann nicht mehr so unbefangen Setzungen vornehmen wie als junge Regisseurin. Ich stehe heute unter zu scharfer Beobachtung, das kostet eine gewisse spielerische Leichtigkeit. Vielleicht hat das allerdings doch mehr mit meiner jetzigen Position zu tun, gar nicht so sehr mit meinem Alter.

Als sie diese Unbefangenheit noch hatten, haben Sie am Düsseldorfer Schauspielhaus "Romeo und Julia" inszeniert und das berühmte Liebespaar als verwöhnte "rich kids" über dem Abgrund schaukeln lassen. Das war 1993. Wie würden Sie die beiden heute inszenieren?

Beier Anders. Damals wollte ich von der gelangweilten Jugend erzählen, die Gefahr sucht, um sich zu spüren, die den Kick braucht aus einer Haltung, die ich "Apokalypse Wow!" nenne. Die Welt hat sich aber verändert, und ich bin politischer geworden. Natürlich bietet das Stück mit den verfeindeten Familien, dem Aufeinanderprallen von Kulturen auch für einen politischen Ansatz viele Möglichkeiten. Aber in Düsseldorf habe ich damals einen Schauspieler für "Romeo und Julia" angefragt, und der sagte: Bilde Dir bloß nicht ein, dass ich bei diesem Kinderstück mitspiele! (lacht) Das ist heute auch meine Haltung. Das Kinderstück würde mich nicht mehr so brennend interessieren. Heute reizen mich andere Stoffe.

Welche?

Beier Zum Beispiel "King Lear", da geht es dann doch um andere Dimensionen.

Den Lear haben Sie in Köln von einer Frau spielen lassen. Warum?

Beier Weil das Stück eine philosophische Groteske ist. Es gibt darin keine ordnende göttliche Kraft mehr, es wird keine rechte Ordnung wiederhergestellt, etwa indem der richtige Nachfolger den Thron bestiege. Das Stück endet in absoluter, bedingungsloser Trostlosigkeit und Brutalität. Alle Figuren sind Täter, das ist unendlich grausam. Dies zugleich als Groteske anzulegen, schien mir mit Frauen am besten möglich, weil man dann Codes durchbricht. Ich habe versucht, an Sehgewohnheiten zu rütteln. Die Gewalt war durch die Frauen noch erschütternder.

Lesen Sie Shakespeare laut?

Beier Ich lese am Anfang möglichst wenig. Wenn ich in der Phase bin zu entscheiden, ob ich ein Stück mache, sehe ich oft nur die Probleme, die ich natürlich nicht ad hoc lösen kann. Darum lese ich ein Werk in dieser Phase nicht zu oft. Wichtiger ist, sich auf den ersten Zugang zu konzentrieren, auf das Zipfelchen, das man beim ersten Lesen erwischt. Wenn ich das habe, lege ich die Stücke erst einmal beiseite und lass das Zipfelchen so groß werden, dass es eine Grundlage ergibt, auf der ich mich einigermaßen stabil fühle. Wenn ich völlig blank im Kopf ein Stück lese, dann trau ich mich am Ende nicht, es zu inszenieren.

Braucht es für Shakespeare besonders viel Mut?

Beier Ja, er ist komplex, weil er zwischen der Welt des Mittelalters und der des Barock changiert. Einerseits durchdringt er den Menschen, auch psychologisch, auf der anderen Seite macht er Setzungen. Das darf man nicht glätten. Das macht den Reiz dieses Autors aus. Er trifft damit die Wirklichkeit, die man ja tatsächlich nie endgültig durchdringen kann. Und als Regisseur bekommt man dadurch große Freiheiten.

Macht das Shakespeare zu einem modernen Dichter?

Beier Ja, aber das hat andere Gründe. Shakespeare lässt Regisseuren auch die Freiheit, diverse Spielformen auf ihn anzuwenden. Das kommt dem modernen performativen Theater sehr nahe. Außerdem geht es bei Shakespeare wie bei allen Klassikern um die letzten Dinge. Es gibt bei ihm Monologe, die sind zum Niederknien. Da wird etwas in Sprache gefasst, ein Gefühl, ein Zustand, ein Blick auf Welt, das ist so unendlich toll, das trifft einen im Kern des Daseins. Es geht bei Shakespeare letztlich nicht um die Geschichte - das Storytelling ist nur ein Vehikel. Es geht um diese Monologe, um Gültiges, das er darin in Worte fasst.

Haben Sie einen liebsten Shakespeare-Satz?

Beier Ja. Es gibt diesen Satz von Richard III., allerdings spricht er den in "Heinrich VI.". Der Satz lautet: "I am myself alone."

Der ist schwer zu übersetzen: Ich bin mir selbst genug oder ich bin allein ich selbst?

Beier Das kann man nicht übersetzen. Den Satz muss man im Englischen belassen.

DOROTHEE KRINGS FÜHRTE DAS INTERVIEW.

(RP)
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