Düsseldorf Stevia – der neue Süßstoff

Düsseldorf · Er ist 300-mal so süß wie Zucker, aber gleichzeitig zahnschonend und ohne Kalorien. Der Süßstoff aus der Stevia könnte unter der Bezeichnung E 960 den Lebensmittelmarkt revolutionieren. Um das süße Kraut, das ursprünglich aus Südamerika stammt, ranken sich allerlei Mythen.

Die Fans der neuen Substanz greifen gern zu einem Superlativ: Stevia sei der "Zucker des 21. Jahrhundert", sagen sie. Zum Beispiel Udo Kienle, Hohenheimer Agrarwissenschaftler, der seit 30 Jahren an der Stevia-Pflanze forscht. Er glaubt, dass sie die anderen Süßstoffe auf dem Markt langfristig verdrängen kann. Kienle: "Stevia ist ein schlafender Riese. Er wacht langsam auf."

Getränkegigant Coca-Cola mischt bereits Limonaden und Eisteesorten mit Stevia-Extrakten. Danone hat vor zwei Jahren einen Joghurt auf den französischen Markt gebracht, dem Stevioglykoside, die Süßstoffe aus der Stevia-Pflanze, seinen Geschmack geben. Im Laufe des Jahres kommen auch in Deutschland Stevia-Produkte in die Einkaufsregale. "Jetzt rollt der Zug an", sagt Kienle. Der Aachener Lebensmittelhersteller Zentis kündigte bereits kalorienreduzierte Konfitüren mit Stevia-Süße an. Fritz-Cola aus Hamburg brachte zur Jahreswende lange vor den US-amerikanischen Branchenführern eine Stevia-Cola auf den Markt. Pullmoll warb bereits Anfang des Jahres auf der Internationalen Süßwarenmesse in Köln mit Hustenbonbons auf Stevia-Basis.

Seit der Zulassung im November darf der Süßstoff zur Herstellung von Softdrinks, Milcherzeugnissen und Süßwaren über Speiseeis bis hin zu Frühstückscerealien verwendet werden. Die Einschränkungen durch die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit erschweren aber die breite Markteinführung. Für die meisten Lebensmittel ist nur ein Stevioglykosid-Anteil von etwa einem Drittel am gesamten Süßstoffgehalt erlaubt. Vollständig mit Stevia gesüßte Produkte wird der Kunde im Einzelhandel (noch) vergebens suchen.

"So kann Stevia ihr Potenzial gar nicht entfalten", kritisiert Kienle. Die Vorteile gegenüber anderen künstlichen Süßmachern liegen für ihn auf der Hand. "Erst einmal sind Stevioglykoside natürliche Erzeugnisse. Zudem sind sie koch- und backfest. Der Konkurrent Aspartam fällt bei hohen Temperaturen in sich zusammen." Doch beim Backen eines Kuchens überstehen die Stevioglykoside zwar die hohen Temperaturen. Aber weil deren Süßkraft 300-mal so stark wie die von Zucker ist, fehlt es bei der Zubereitung des Teigs schlicht an Volumen. Ähnliche Probleme bereitet die Produktion von Schokolade mit Stevia. "Die Lebensmittelindustrie lässt sich da was einfallen", ist sich Kienle sicher.

Ein weiteres Problem ist das Verbot des Anbaus in Europa. Die meisten heimischen Hersteller müssen isolierte Stevioglykoside aus chinesischer Produktion importieren. "Die Qualitätsunterschiede sind enorm", erzählt Kienle. "Neben vielen hervorragenden Produkten gibt es auch Lieferungen, bei deren Geruch sich schon die Fußnägel zusammenrollen." Eine offensive Bewerbung des neuen Süßstoffs als Naturprodukt scheidet aufgrund des Herstellungsverfahrens wohl aus.

Als Zierpflanze dagegen steht Stevia schon länger in Baumarktregalen. Dass das schmucklose Kraut nicht die Fensterbank verschönern soll, ist Verkäufern und Kunden gleichermaßen bewusst. Stevia-Fans trocknen die Blätter im Backofen, zermahlen sie und gießen sie auf. Daraus kann das Konzentrat gewonnen werden. Rezepte mit Stevia für den Hausgebrauch gibt es viele, wobei der leicht lakritzartige Beigeschmack manchmal stören kann. Ähnliche Gesetzeslücken nutzen auch Bio- und Reformläden, die Stevia-Produkte als Kosmetika verkaufen. Ein kleiner Öko-Hersteller bietet über Ausnahmeregelungen Tee mit Stevia-Extrakt an.

Einher mit der Markteinführung geht hierzulande eine große Euphorie. "Im Internet steht unendlich viel Quatsch", ärgert sich Kienle und räumt mit einigen Irrtümern auf. "Viele Händler bewerben Stevia als uraltes Heilmittel der südamerikanischen Ureinwohner. Das ist falsch." Kein historisches Dokument belege eine verbreitete Verwendung der Pflanze.

"Als ich Mitte der 80er Jahre in Paraguay war, hatte ich große Schwierigkeiten, überhaupt eine Pflanze zu bekommen. In den Geschäften gab es bis vor wenigen Jahren überhaupt keine Stevia-Produkte. Lediglich auf kleinen Märkten findet man ab und an etwas." Dabei entdeckte der Schweizer Botaniker Moises Bertoni schon in den 1880er Jahren bei seinen Reisen durch Südamerika als erster westlicher Wissenschaftler die "Stevia rebaudiana", so ihr lateinischer Name. 1931 wurde der Süßstoff erstmals isoliert.

Warum es so lange gedauert hat, bis er den Weg in die Lebensmittelindustrie geschafft hat, erklärt Kienle so: "Es musste sich erst ein Investor finden, der die teuren Studien für die Zulassung finanziert."

Mögliche Gesundheitsgefahren sind bisher nicht bekannt, es gibt aber Hinweise, dass der Süßstoff blutdrucksenkend wirken könnte. Die Behörden sind vorsichtig: Bei 80 kg Körpergewicht sollte man nicht mehr als 0,5 Gramm Stevia pro Tag aufnehmen.

(RP/wat)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort