György Konrad "Ungarn ist kein Rechtsstaat mehr"

Der jüdisch-ungarische Autor György Konrad spricht über den Rechtsruck in seiner Heimat – und seinen Glauben an Europa.

Was geschieht gerade in Ungarn?

Konrad Der aktuellen Regierung in Ungarn ist es gelungen, das Land zu spalten. Wir erleben derzeit den Kampf zwischen zwei Lagern.

Ungarn wird von einer rechtskonservativen Regierung geführt, die viele in der EU für gefährlich halten. Warum ist sie an die Macht gelangt?

Konrad Sie hat einen aggressiven Wahlkampf geführt, und die Gegner auf liberal-bürgerlicher Seite waren konfus. Zu diesem Lager zähle ich selbst. Wir wollten die Regeln der demokratischen, toleranten Auseinandersetzung nicht aushebeln, fanden zum Beispiel, dass auch jemand, der eine begrenzte Sicht auf die Dinge hat, in einer Demokratie zu Wort kommen sollte. Doch wenn sich dann gewisse politische Plattformen zusammenschließen und strategisch geschickt handeln, dann sind sie schnell an der Macht. Demokratien müssen sich immer erst festigen. Wenn die Leute diesen Geist noch nicht recht verinnerlicht haben, dann fehlt es an Widerstand gegen Kräfte, die alleinige Herrschaft anstreben.

Die Demokratie hat sich in Ungarn also noch nicht genug gefestigt?

Konrad Man muss sehen, dass vor 1989 Aufsteigerfamilien in Ungarn den Ton angegeben haben, die kommunistische Laufbahnen genommen und davon profitiert haben – finanziell und durch Kontakte. Irgendwie sind sie nach dem Zerfall der Diktatur doch Gewinner der Geschichte geworden, anders als andere, die zu höflich waren.

Hat Europa Länder wie Ungarn zu wenig gestützt bei der Transformation in das demokratische System?

KOnrad Ich will mich nicht beklagen über die EU, denn sie war nicht vorbereitet. Sie hatte keinen Instinkt für die Prozesse, die abliefen, denn die EU-Verantwortlichen haben darüber nur in den Zeitungen gelesen. Sie sind brave Leute mit guten Absichten, aber sie haben nur die Wörter ihrer Gesetze. Und sie haben kaum Sanktionsmöglichkeiten – zumindest treffen die nicht die Führungsriege eines Staates, sondern die kleinen Leute.

Ist Ungarn noch ein Rechtsstaat?

Konrad Nein, wenn eine Partei oder sogar eine Person die Möglichkeit hat, an einem unterdrückten Parlament vorbei alles durchzusetzen, dann entsteht eine hegemonische Autokratie. Das bedeutet nicht, dass ich für meine Äußerungen verhaftet werde oder meine Schriften verboten würden. Aber Präsident Viktor Urban hat die Verfassung Schritt für Schritt grundlegend verändert, und damit die Rechte der Opposition geschwächt.

Es ist jetzt strafbar, die "Würde der ungarischen Nation" zu verletzen. Solche Gesetzen schränken die publizistische - also auch Ihre Freiheit ein.

KOnrad Es wäre sehr dumm von den heutigen Machthabern, gleich alles zu verbieten. Sie verfahren anders: Sie beschneiden die Opposition, machen sie lächerlich – das sind die Methoden aller Diktatoren in postsowjetischen Ländern, die von einem Parteienstaat in den nächsten gerutscht sind. Es gibt in diesen Ländern noch immer eine Begeisterung dafür, alle Macht in einer Hand zu vereinen. Plötzlich gilt es dann als lächerlich, altruistisch zu sein, und so verändert sich das Klima.

Demokratie funktioniert also nur, wenn alle Demokratie wollen?

Konrad Ja. In einer Gesellschaft muss die Mehrheit glauben, dass Demokratie ihr Land vor den Spitzbuben beschützt. Wenn das nicht Konsens ist, weil viele Menschen schlechte Erfahrungen mit der Transformation gemacht haben, unsicherer und ärmer geworden sind, dann ziehen sich die Menschen zurück. Die Hälfte der ungarischen Bürger wählt nicht und glaubt den Demagogen.

In Ihrem neuen Essaybuch "Europa und die Nationalstaaten" schreiben Sie, dass eine der Stärken Europas darin liege, dass die Mitgliedstaaten voneinander lernen müssen. Glauben Sie noch daran?

Konrad Ja, ich glaube daran. Die EU hat dieselben Schwächen wie jeder Staat, Bürokraten sind keine Engel. Aber wir sollten Europa nicht nur als das Gebilde der gewählten Vertreter verstehen, es besteht auch aus den parteilosen Denkern, den Intellektuellen, der Presse. Die besten Texte, die jeden Tag in den europäischen Zeitungen erscheinen, das ist auch Europa. Wenn ein Staat versucht, die Vielfalt dieser autonomen Stimmen unmöglich zu machen, den Schreibern die Lebensgrundlage zu entziehen, dann führt das auf direktem Weg in die Willkürherrschaft.

Sie glauben an die Macht der europäischen Öffentlichkeit?

Konrad Ich bin kein Utopist. Ich kenne die Naivität und Ignoranz wohlmeinender europäischer Denker. Ich will darüber nicht klagen. Die Menschen sind, wie sie sind.

Was fordern Sie von diesen Denkern?

KOnrad Nichts. Ich fordere von den Ungarn, nachzudenken, die Demagogie nicht zu schlucken, kritisch zu bleiben.

Fühlen Sie sich als Jude unsicher in Ihrer Heimat?

KOnrad Ich werde oft als Vaterlandsverräter beschimpft. Das haben schon die Kommunisten gemacht, die heutigen Nationalisten tun das auch. Ich wäre dumm, wenn ich darauf reagieren würde. Das wäre Zeitverschwendung.

Angst macht Ihnen das nicht?

KOnrad Angst gehört nicht zu meinen Gewohnheiten. Dafür gab es genug Anlass als ich Kind war – alle meine jüdischen Schulkameraden wurden während der Nazizeit getötet. Seither hätte mich die Angst begleiten können, aber ich habe mich entschieden, das Leben lieber zu genießen. Ich glaube nicht an die Mauseloch-Strategie.

Sie werden am 2. April 80 Jahre alt. Was wünschen Sie sich?

Konrad Mehr denkende Mitbürger.

DOROTHEE KRINGS FÜHRTE DAS INTERVIEW.

(RP)
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