Asli Erdogan Verschwundene, Verlorene

Schriftstellerin Asli Erdogan wird in der Türkei der Prozess gemacht. Ein Auszug aus ihrem neuen Buch.

Texte, die zunächst persönlich wirken, um sich dann ins Allgemeine zu öffnen: In den letzten beiden Wochen bin ich so heftig von den Protesten vor den Gerichten auf ein norwegisches Literaturfestival und wieder zurück geschleudert worden, dass ich diesem Ziel wahrlich nicht näher gekommen bin. Bei all der Schleuderei konnte ich nicht am 16. Jahrestag der Samstagsmütter teilnehmen, an deren Aktionen ich mich in den Neunzigerjahren regelmäßig beteiligt und über die ich oft geschrieben habe.

Ich erinnere mich insbesondere an einen Schweigemarsch der Frauen, bei dem wir Richtung Galatasaray ziehen wollten und an jeder Straßenecke zwei oder drei von uns verhaftet wurden. Das Menschengewimmel von Beyolu ignorierte uns herablassend, und manche Blicke waren unverwandt hasserfüllt. Die Frauen reckten ihre Handschellen in die Luft. Ohne ein einziges Mal zu schreien oder Parolen zu rufen, schritten sie in stiller Würde voran. Ihr Leid konnte man beinahe mit Händen greifen, ihr Widerstand hatte jede Form von Angst hinter sich gelassen (ich hingegen spürte sie bis ins Mark, diese durch willkürliche Gewaltmaßnahmen erzeugte bodenlose Angst, die weit über die Angst vor Schlägen, vor Tritten, vor Beleidigungen hinausgeht), sie waren zutiefst verbunden ... dieser einen, einzigen Person, die sie liebten, und dem Leben, das sie ohne sie führen mussten ... Eine Widerständigkeit, die auch die Jahrzehnte nicht aushöhlen.

In einer Welt der Sieger und Besiegten verstehen insbesondere Frauen etwas von dieser Form des Widerstands, besonders Frauen vermögen sie zu vermitteln. Frauen, die über Stock und Stein gehend die Leichname ihrer Kinder suchen, meistens entstellte, zerfetzte, verbrannte, grausam zerfolterte Leichname. Als ich von ihrem Aufschrei las und wie sie sagten: Wir würden uns schon mit einem Fingernagel zufriedengeben ... da musste ich noch einmal darüber nachdenken, aus der Mitte des Schrecklichen heraus zu schreiben.

Im Wesentlichen ist Literatur ein Versuch der Auseinandersetzung und der Aussöhnung. Wenn aber die Gewalt uneingeschränkt herrscht, welche Aussöhnung kann da schon gelingen?

Eine "verschwundene" oder "verlorene" Person. Mit ihr sind nicht nur die schönsten und bedeutungsvollsten Jahre meines Lebens verschwunden oder verloren, sondern das Licht, die Farben, die Sonnenaufgänge, die letzten Hoffnungen auf Glück. Anlässlich der vergangenen Woche der Verschwundenen habe ich aus meinen alten Artikeln und dem Erzählband "Das Steinhaus" Passagen ausgewählt.

***

Habt ihr je zuschauen müssen, wie ein Mensch, den ihr sehr liebt, sich auf den Weg macht, um nie wieder zurückzukehren? Auch jener Morgen ist wie jeder andere. Wieder hat er oder sie das Frühstück ausgelassen und auf nüchternen Magen eine Zigarette angezündet. Ist genervt, wie immer morgens. Hat den Schal zu Hause vergessen. War er an jenem Morgen angespannter als sonst, oder kam dir das nur im Nachhinein so vor, wenn du drüber nachdachtest? Kam es nur dir so vor, wenn du jenen Morgen im Gedächtnis Tausende von Malen durchgingst? Wenn du das nur gewusst hättest ... Anstelle des oberflächlichen Abschieds hättest du ihn noch einmal an dich gedrückt. An dich gedrückt und nicht wieder losgelassen. Mit sämtlichen Bändern der Welt hättest du ihn an dich gebunden, mit sämtlichen Abhängigkeiten, Versprechungen, Schwüren. Du hättest, wenn es hätte sein müssen, die Welt angehalten, nur um ihn daran zu hindern, aus der Türe zu gehen. Wenn du das nur gewusst hättest ...

Hast du je auf einen Menschen gewartet, von dem du nicht weißt, was mit ihm geschehen ist? Stundenlang, tagelang, ohne vom Telefon wegzugehen, mit leeren Hoffnungen jedes Mal, wenn es klingelt, schon gepackt von furchtbaren Zweifeln. Jede Sekunde reißt sich schmerzhaft von deinem Herzen und stürzt zu Boden, sie scheint zu zerschellen. Dem Rauschen der Stunden kannst du nicht standhalten, die Wände stürzen auf dich nieder. Bei jedem Schritt lebst du auf und hältst den Atem an. Es war nur der Nachbar.

Die Straßen wie ausgeleert. Die Welt ist mit einem enormen Klagelied überzogen, doch nur deine Ohren können es wahrnehmen. Es muss doch eine Spur geben irgendwo, unbedingt. Deine Augen scannen die Zeitungen, die Gärten, die Keller, die Busfenster ab. Du schaust an jedem einzelnen Baum hinauf, vielleicht hat er mit dem Messer ein Hoffnungszeichen eingeritzt. Bei einem bekannten Mantel hüpft das Herz. Vielleicht hast du das nicht erlebt, aber du erinnerst dich an so etwas. Du bist sechs Jahre alt und niemand kann verstehen, warum du wegen eines Katzenbabys so unglaublich traurig bist. Das Licht deiner Augen ist erloschen, dein Lächeln wirkt zum ersten Mal in deinem Leben aufgesetzt. Tagelang suchst du nach ihm, erst im Garten, dann auf der Straße, dann in sich immer weitenden Kreisen in der Nachbarschaft. Es wird dir versprochen, dass du ein neues Katzenbaby bekommst. Deine Mutter spinnt eine Geschichte zusammen, an die du zu gerne glauben würdest, sie nennt diesen Ort Himmel. Aber du bist ein Kind, du bist eben egoistisch und willst, dass das Katzenbaby bei dir ist. Eines Abends starren deine Augen ausdruckslos in die Gegend. Deine Mutter erzählt wieder die gleiche Geschichte. Du beißt dir auf die Lippen und bist still. Du hast die Katze gefunden und heimlich beerdigt. Das ist dein allererstes Geheimnis. Dein erster Verlust. Deine erste Tragödie.

Ist schon mal einer deiner Söhne ermordet worden?

***

Dein Kopf war vornübergefallen. Zwei feuchte, einsame Sterne an einem hinter Geäst verborgenen Firmament waren deine Augen. Die hast du bei mir vergessen. Einzeln, behutsam schob ich die Äste auseinander, tage-, nächtelang, jahrelang schob ich sie auseinander. Als ich fertig war, warst du schon längst weg.

***

Einmal liebte ich jemanden. Die Vögel sprachen mit ihm. Ob ich die beiden nassen Tauben fragen soll, die sich auf den Fenstersims geflüchtet haben: Wo ist er jetzt? Sagt dann die eine: "In meinem Kröpfchen" und die andre: "In meinem Schwänzchen?" Und wird dann die eine die andre und beide zu gar keiner? Wenn ich frage: "Sagt mir, wo ist sein Grab?" ...

"In meinen Flügeln, in meinen Flügeln ..."

(RP)
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