Was ist eigentlich weiblich? Die Wissenschaft ringt um den kleinen Unterschied

Düsseldrof · Die Gender-Forschung betrachtet Geschlechter als soziale Konstrukte – und stellt eindeutige Grenzen in Frage. Das irritiert, ermöglicht Männern und Frauen aber, ihre Rollen freier zu gestalten.

Bildband "Sworn Virgins" - Mannfrauen vom Balkan
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Die Gender-Forschung betrachtet Geschlechter als soziale Konstrukte — und stellt eindeutige Grenzen in Frage. Das irritiert, ermöglicht Männern und Frauen aber, ihre Rollen freier zu gestalten.

Wann ist eine Frau eine Frau? Auf diese Frage gibt es in der Wissenschaft längst keine naive Antwort mehr. Vorbei die Zeiten, als der "Hebammenblick" zählte, als körperliche Eigenschaften genügten, um Geschlechter festzulegen — und eindeutig schien, was einen Mann, was eine Frau ausmacht.

Heute tritt mehr und mehr ins Bewusstsein, dass eine strenge Zwei-Geschlecht-Einteilung zur Beschreibung der Menschheit nicht ausreichen könnte, dass es neben dem biologischen ein soziales Geschlecht gibt, das differenzierter prägt, wie Menschen sich empfinden. Männer wollen nicht mehr nur harte Jungs sein und entdecken weibliche Anteile an sich. Frauen bewähren sich in angeblichen Männerberufen, lassen sich immer weniger auf Tätigkeiten begrenzen, die angeblich weibliche Eigenschaften wie Fürsorglichkeit erfordern. Grenzen verwischen.

Norrie ist weder Mann noch Frau
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Dazu passt, dass der Staat seit dem vergangenen Jahr respektiert, dass es intersexuelle Menschen gibt, also Menschen mit nicht eindeutigen körperlichen Geschlechtsmerkmalen. Für sie hat der Gesetzgeber das Personenstandgesetz geändert und damit auf das Bundesverfassungsgericht reagiert, das die Anerkennung des "empfundenen und gelebten" Geschlechtes als Ausdruck des Persönlichkeitsrechts betrachtet. Seither müssen sich intersexuelle Menschen nicht mehr zu einem Geschlecht bekennen.

Für Forscher wie den Biologen Heinz-Jürgen Voß sind das überfällige Schritte. Er beschäftigt sich seit Jahren mit dem Zusammenhang von Geschlechterfestlegung und Gesellschaftssystem. "Die eindeutige Zuschreibung von Mann und Frau hat in den Anfängen des Kapitalismus garantiert, dass Frauen mit unbezahlten Haushaltstätigkeiten die Leistungsfähigkeit der Arbeiter sicherstellten", sagt Heinz-Jürgen Voß, "und wenn Frauen selbst in den Fabriken gearbeitet haben, wurden ihnen deutlich geringere Löhne gezahlt." In Gesellschaften, in denen Menschen noch immer in solchen frühkapitalistischen Strukturen schuften müssen, seien Geschlecht und Sexualität weiterhin "fabrikmäßig diszipliniert". In dienstleistungsorientierten Ökonomien wie in Europa wachse dagegen die Bereitschaft, eine größere Vielfalt bei den Geschlechterrollen anzunehmen. "Dienstleistungsökonomien leben von Leistungsmerkmalen wie Kreativität, die Menschen hervorbringen, die sich nicht von alten Geschlechtsstereotypen einengen lassen", so Voß.

Die differenzierte Betrachtung von Geschlechtern hat in den Sozialwissenschaften schon in den 60er-Jahren mit der Gender-Theorie begonnen. Forscherinnen wollten sich im männlich dominierten Wissenschaftsbetrieb ihre Fragestellungen nicht mehr von Männern diktieren lassen. Sie begannen, zwischen Sex, dem biologischen Geschlecht, und Gender, dem soziologischen Geschlecht, zu unterscheiden und kritisch zu reflektieren, wie Geschlechterrollen von der Gesellschaft diktiert werden.

Heute gibt es Gender-Ansätze selbst in der Medizin. "Wir arbeiten daran, in Studien nicht mehr nur das binäre Merkmal Mann/Frau zu erfassen, sondern eine Kombination aus Faktoren wie Alter, sozialer Status, Lebensgewohnheiten zu erheben, weil das viel aussagekräftiger ist als allein das Geschlecht", sagt Sabine Oertelt-Prigione, Medizinerin am Institut für Geschlechterforschung in der Medizin an der Berliner Charité. Das macht Forschung in der Medizin komplizierter, doch bringen Studien, die Patienten nicht stereotyp nach ihrem Geschlecht einteilen, sondern nach ihren Lebensgewohnheiten fragen, neue Ergebnisse. Zum Beispiel, dass Osteoporose durchaus auch eine Männerkrankheit ist oder dass Frauen in gewandelten Berufsrollen Risiken für vermeintlich männliche Erkrankungen wie den Herzinfarkt tragen.

Die kritische Sozialforschung hat das Bewusstsein dafür geschaffen, dass Geschlechter immer auch soziale Konstrukte sind, Gesellschaften also festlegen, was weiblich und männlich ist und wie viel Spielraum für Abweichung bleibt. "Was Frausein bedeutet, kann nur jede einzelne für sich bestimmen", sagt Katinka Schweizer, Diplom-Psychologin am Institut für Sexualforschung des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Je stabiler eine Persönlichkeit sei, desto besser sei sie in der Lage, bei sich Anteile beider Geschlechter wahrzunehmen und Teile davon auszuleben. Der Mensch sei aber immer auch soziales Wesen, er spiegele sich in seinen Mitmenschen und sei daher auch abhängig davon, welche Zuschreibungen zu den Geschlechtern in einer Gesellschaft vorherrschen. "Gerade die Beschäftigung mit körperlichen Phänomenen wie Intersexualität hat in Deutschland dazu geführt, dass wir erkennen, dass die einfache Einteilung in zwei Geschlechter zu begrenzt ist und regt Menschen an, darüber nachdenken, wie sie geprägt sind", so Schweizer. Das schaffe neue Denkräume und gebe vor allem Frauen die Freiheit, stärker selbst zu bestimmen, was für sie weiblich ist.

Nach Jahren, in denen die Gender-Forschung stark darauf abgehoben hat, Geschlecht als soziales Konstrukt wahrzunehmen, wird in der Forschung aktuell der Körper wieder wichtiger, der ein biologisches Geschlecht vorgibt ehe soziale Einflüsse ihre Wirkung entfalten. Je weniger rigide eine Gesellschaft dann festlegt, was Frausein und Mannsein bedeutet, desto mehr Spielraum haben Menschen, ihre Persönlichkeit zu entfalten — und sich selbstbestimmt in das soziale Miteinander einzubringen.

Am Horizont erscheint damit eine Utopie. Die Möglichkeit vom Zusammenspiel der Geschlechter, das ohne einengendes Abgrenzungsgebaren auskommt. Simone de Beauvoir hat es bereits 1951 in "Das andere Geschlecht" so formuliert: "Es ist Aufgabe des Menschen, dem Reich der Freiheit inmitten der gegebenen Welt zum Durchbruch zu verhelfen. Damit dieser höchste Sieg errungen werden kann, ist es unter anderem notwendig, dass Männer und Frauen über ihre natürlichen Unterschiede hinaus unmissverständlich ihre Geschwisterlichkeit behaupten."

(RP)
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