Astronaut auf der ISS Alexander Gerst — unser Mann im All

Düsseldorf · Der Deutsche Alexander Gerst ist Geophysiker und Astronaut. Mit Facebook-Posts und Fotos aus dem All avanciert "Astro-Alex" nun auch zum Popstar und Philosophen.

Alexander Gerst — unser Mann im All
Foto: Phil Ninh

Nein, Alexander Gerst ist kein Pionier. Das muss man sich dieser Tage vielleicht in Erinnerung rufen, zwischen Video-Interviews und dem Weltraumspaziergang des 38-Jährigen in den Nachrichten und seinen Luftaufnahmen bei der Wettervorhersage danach. Was er tut — durchs Weltall schweben und forschen — ist so neu nicht.

Schon am 12. April 1961 wurde Juri Gagarin, der "Held der Sowjetunion", zum Pionier im All. Seitdem haben mehr als 500 Menschen die Erde von oben gesehen, Männer und Frauen aus China und Puerto Rico, Malaysia und Südafrika. Der berühmteste (reale) Raumfahrer überhaupt dürfte Neil Armstrong bleiben: Der erste Mensch auf dem Mond, der Mann, der von dem kleinen Schritt für einen Menschen und dem riesigen Sprung für die Menschheit sprach.

Auch Deutsche unter den Astronauten sind keine Seltenheit: Gemeinsam haben BRD und DDR mehr Raumfahrer gestellt als alle anderen Nationen außer Amerika und der ehemaligen Sowjetunion. Der erste Deutsche war 1978 der Militärpilot Sigmund Jähn aus dem sächsischen Dorf mit dem Morgenröthe-Rautenkranz; Gerst ist Nummer elf.

Die wichtigsten Plätze im Geschichtsbuch sind also längst vergeben. Was unterscheidet den Geophysiker Gerst von all den anonym gebliebenen Raumfahrern wie Reinhard Furrer, Ernst Messerschmid und Klaus-Dietrich Flade? Was könnte ihn populärer machen als die beiden deutschen "Star-Astronauten" und Bundesverdienstkreuz-Träger Ulf Merbold und Thomas Reiter?

In Kürze lautet die Antwort: Fotos.

In etwas länger: Bilder und Worte bei Facebook, Twitter, Flickr, Vine.

Raumfahrt: Alexander Gersts Blick von der ISS auf die Erde
35 Bilder

Der Blick von Alexander Gerst auf die Erde

35 Bilder
Foto: dpa, nasa mda kno

Großzügig wie kaum jemand zuvor teilt Gerst seinen einzigartigen Ausblick auf die Erde und seine Gedanken dazu. In Echtzeit und überall dorthin, wo die Menschen sind, also eben nicht nur vor der Tagesschau oder mit der Nase im Time Magazine. Er ist der perfekte Astronaut für das Social-Media-Zeitalter.

Durst nach schönen Bildern und weisen Worten

Auch dabei ist Gerst kein Pionier; der amerikanische Astronaut TJ Creamer hatte am 22. Januar 2010 erstmals live von der ISS getwittert, andere wie der Kanadier Chris Hadfield taten es ihm nach. Und zwar so erfolgreich, dass die europäische Weltraumbehörde ihrem zeitgleich in die Astronauten-Ausbildung startenden Jahrgang kurzerhand Social-Media-Schulungen verpasste. Dass Gerst heute über soziale Netzwerke hunderttausende Menschen erreicht, die seine Aufnahmen "liken", teilen und kommentieren, dürfte auch an der angespannten weltpolitischen Lage liegen.

Zwischen immer neuen Schreckensnachrichten über Ebola und IS dürsten die Menschen nach schönen Fotos. Und weisen Worten über die Kleinkariertheit menschengemachter Grenzen und die Endlichkeit natürlicher Ressourcen, idealerweise von einer Art Autorität mit übergeordnetem Blick statt irdischen Verstrickungen.

Die Sehnsuchtsfigur Astronaut bietet sich perfekt dafür an — zumal ihre Attraktivität im direkten Vergleich mit anderen klassischen Traumberufen stetig zunimmt. Cowboys, Ritter und Piraten sind auf dem Arbeitsmarkt nicht gefragt, Polizisten ersticken in Papierkram, Piloten der großen Fluglinien sind längst zu Busfahrern der Lüfte verkommen. Nichts gegen Busfahrer, aber Romantik und Abenteuer bleiben in diesem Job auf der Strecke.

Gerst ist das Gesicht der Erfolgsgeschichte ISS

Deutlich höher am Himmel hingegen, etwa 415 Kilometern über der Erdoberfläche, läuft seit rund 14 Jahren das vielleicht romantischste Abenteuer der Menschheitsgeschichte. Inmitten tödlicher Kälte und Strahlung, am äußersten Rand der Atmosphäre, wagen Menschen das Langzeitexperiment Leben. Männer und Frauen aus aller Herren Länder und aller Religionen arbeiten und albern, schlafen und trainieren zusammen. In der Schwerelosigkeit. Auf einer Raumstation, 100 mal 110 mal 30 Meter groß und mehr als 400 Tonnen schwer, bestehend aus Modulen, die verteilt über die ganze Welt entwickelt und gebaut wurden.

Sie beobachten die Erde und entdecken immer neue Kleinigkeiten im sie umgebenden All. Sie sammeln Daten zum Verhalten von Flüssigkeiten und Gasen im Allgemeinen sowie neuen Werkstoffen im Besonderen. Und forschen zu medizinischen Problemen von Knorpelstoffwechsel bis Krebs. Sie erfüllen die Ideale der friedlichen "Sternenflotte" aus Star Trek — meist allerdings deutlich unterhalb der Wahrnehmungsschwelle.

Ihr kollaboratives Projekt ist, allen Kosten zum Trotz, ähnlich wichtig und wundersam wie die Wikipedia — und noch abstrakter als irdische Kooperationen wie die UN.

Alexander Gerst nutzt alle Möglichkeiten, um der ISS endlich eine Stimme zu verleihen. Eben in Form von Tweets, Facebook-Fotos sowie, ab und zu, Vine-Videos. Rechtschreibfehler in den Beitexten, die sich ab und zu einschleichen, verleihen dem Ganzen nur die Authentizität, die man in den von Agenturen durchgestylten virtuellen Präsenzen von Sport- oder Musikstars vermisst.

Der Vulkanologe lernte zusätzlich Zahnmedizin, Russisch und Klempnern

Der 38-Jährige aus dem baden-württembergischen Künzelsau ist ein Mensch, mit dem fast jeder eine Gemeinsamkeit findet. Er war Pfadfinder, Rettungsschwimmer und Jugendfeuerwehrmann. Er ist Natur- und Sportfan, liebt Bergwandern, Klettern, Tauchen, Fechten und Fallschirmspringen. Aus dem All feuerte er während der Fußball-WM die deutsche Nationalelf an. Ab und zu isst er dort oben auch Käsespätzle, schlägt Salti oder spielt mit dem Stück vom Dom, das er aus seiner Wahlheimat Köln mit nach oben genommen hat. In Interviews wirkt er glaubwürdig enthusiastisch, durchgehend sympathisch und unangestrengt intelligent.

Das alles half ihm, sich im Mai 2009 gegen 8407 Bewerber um einen der sechs Plätze im Europäischen Astronautenkorps durchzusetzen. Basis dafür war indes sein exzellenter Ruf als Vulkanforscher, den er sich in Karlsruhe, Hamburg und dem neuseeländischen Wellington sowie auf seinen Expeditionen vor allem in die Antarktis erworben hatte. Danach folgte seine 6000 Stunden umfassende Ausbildung als Astronaut; mit Intensivkursen in Robotik und Russisch sowie von Astronomie über Klempnern bis Zahnmedizin. Mit seinen beiden Mannschaftskameraden Maxim Surajew (Russland) und Reid Wiseman (USA) eignete er sich theoretische, aber auch ganz praktische Fähigkeiten an — etwa bei einem dreitägigen Überlebenstraining bei minus 20 Grad im russischen Wald.

Gerst ist körperlich und geistig außergewöhnlich fit — ein Mann wie ein Fiebertraum der Redaktion von "Schlag den Raab", die bei der Kandidatensuche unwahrscheinliche Kombinationen wie Hirnchirurg mit Holzhackerstatur und absolutem Gehör auffährt, um Überehrgeizling Stefan Raab in einem fordernden Spiele-Marathon zu schlagen.

Und jetzt fotografiert (und philosophiert) er auch noch.

Die Fotos entstehen in Gersts Freizeit

Gersts Bilder kommen überwältigend gut an, dutzende, teils hunderte Facebook-Nutzer kommentieren sie. Die einen danken für Abwechslung vom Couchpotato-Dasein, die anderen für erneuerte Motivation für ihre eigene wissenschaftliche Arbeit, alle für den buchstäblich erweiterten Horizont. Die meisten duzen ihn.

Diese Erfolge sind für die ESA ein zweischneidiges Schwert. "Die Kommunikation mit der Öffentlichkeit ist nicht nur Jux und Dollerei, sondern Teil unseres Auftrags", betont ESA-Sprecher Andreas Schepers. "Andererseits ist die Zeit der Crew dort oben die wertvollste Ressource."

Die Fotos entstehen deshalb in Gersts Freizeit. Samstags wird auf der ISS geputzt, weil sich überall Dreck, abgestorbene Haut, Schweißtropfen und Essensreste ablagern. Sonntage sind komplett arbeitsfrei. Die Fotos entstehen dann oder unter der Woche, zwischen dem Feierabend gegen 20 Uhr und dem Beginn des nächsten Arbeitstags um 6 Uhr.

"Die Astronauten können in dieser Zeit schlafen, aber auch lesen oder sich Filme ansehen", erklärt Schepers. "Aber die Erfahrung zeigt, dass sie am liebsten stundenlang am Fenster sitzen." Und immer öfter auch fotografieren. Trotz handelsüblicher Kameratechnik wirken viele der Aufnahmen von Gerst und seinen Kollegen so atemberaubend wie Szenenfotos aus dem oscargekrönten 100-Millionen-Dollar-Film "Gravity". Kein Wunder, bei einem Logenplatz mit Aussicht auf Sonnenaufgänge und Polarlichter, tropische Trauminseln und Hurrikane.

Auf den "Senden-Knopf" drückt das Bodenpersonal

Andererseits hat die Fotografie aus dem All auch ihre ganz eigenen Tücken: Die Motive beispielsweise sind äußerst flüchtig.

Mit rund sieben Kilometern pro Sekunde dreht sich die Erde unter der ISS weg. Eine Erdumrundung ist so in 91 Minuten absolviert. Bis die Station einen bestimmten Punkt zum zweiten Mal überfliegt, dauert es allerdings rund elf Tage. Speziell für Nachtaufnahmen gibt es im Aussichtsmodul Cupola ("Kuppel") seit April 2012 ein computergesteuertes Stativ, das "NightPod". Bis dahin hatten Gersts Vorgänger versucht, die Bewegung von Station und Erdoberfläche per Hand auszugleichen — und ein improvisiertes Konstrukt aus einem Akkuschrauber verwendet.

Die dabei entstehenden Aufnahmen bringt Gerst, wenn man Haare spalten will, nicht eigenhändig zu seinen Fans. Kann er aber auch nicht, weil die ISS nicht durchgehend Zugang zum world wide web hat, sondern nur, wenn entsprechende Satelliten in der Nähe sind. Deshalb schickt Gerst seine Aufnahmen meist per Mail an Schepers in Darmstadt und dessen Kollegen im niederländischen Noordwijk.

"Auf den 'Senden'-Knopf drücken dann wir", sagt Schepers, die Bilder und Worte stammten aber ausschließlich von Gerst. Weil Twitter in Deutschland anders als etwa in Italien oder den Niederlanden kaum verbreitet ist, konzentriert sich Gersts Helferlein Schepers dabei auf Facebook: bis zu zwei Millionen Menschen erreichen sie dort, etwa 80 Prozent von ihnen aus Deutschland, der Rest aus aller Welt.

In drei Wochen steht der Heimflug an

Seit dem 28. Mai lebt Gerst auf der ISS, am 11. November soll er nach rund 100 Experimenten in 166 Tagen zurückfliegen. Welche Botschaft er mit seinen Fotos vermitteln will? "Unsere gesamte Geschichte, angefangen von Einzellern und Dinosauriern bis hin zu den Menschen, hat sich auf diesem einen, winzigen blauen Punkt im unendlichen Universum abgespielt. Unsere Ressourcen wie Öl, Energie, Wasser und Luft sind nur begrenzt vorhanden. Wir leben aber, als wäre alles in unendlichen Mengen vorhanden, als wenn es kein Ende gäbe. Verlässt man unseren Planeten, so sieht man mit eigenen Augen, dass wir nur ganz begrenzte Ressourcen haben. Das ist die Perspektive, die ich gerne von der Raumstation zurückbringen will."

Man kann Gersts Bild-Wort-Kombinationen leicht als Postkartensprüche abtun, doch das schmälert nicht ihren Wahrheitsgehalt. Am 25. Juli schrieb er: "Ich schwebte ins 'Cupola'-Fenstermodul, weil ich plötzlich etwas gesehen hatte, das mir nie zuvor aufgefallen war: Lichtstreifen, die hin und her flogen, über einer dunklen Erde, die nur ab und an von orangenen Feuerbällen erleuchtet wurde. Ich nahm meine Kamera und machte einige Fotos, noch bevor ich komplett verstanden hatte was ich gesehen hatte und über welches Gebiet wir gerade geflogen waren." Bis es bei Twitter landete, war klar: Es waren Israel und der Gaza-Streifen, Gerst hatte Raketen gesehen.

My saddest photo yet. From #ISS we can actually see explosions and rockets flying over #Gaza & #Israel pic.twitter.com/jNGWxHilSy

Einer Leserin fiel dazu folgender Aphorismus des Satirikers William S. Burroughs ein: "Nach einem Blick auf diesen Planeten würde jeder außerirdische Besucher sagen: 'Ich möchte sofort mit dem Geschäftsführer sprechen!'"

Dieser Text ist zuerst in der Rheinische Post App erschienen.

(tojo)
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