Wissen Wie das Internet unser Gedächtnis ersetzt

Berlin · Suchmaschinen liefern in wenigen Sekunden die Fakten, die früher zur Allgemeinbildung gehörten. Derzeit kann die Wissenschaft aber nicht sagen, ob extreme Internet-Nutzung Auswirkung auf die Struktur des Gehirns hat.

Wissen: Wie das Internet unser Gedächtnis ersetzt
Foto: afp, mlm/ljm/kb

Früher waren Menschen wandelnde Telefonbücher. Sie wussten die Rufnummern der Familie und zahlreicher Freunde und kannten zusätzlich noch Adresse und Postleitzahl. Dieses Wissen geht verloren. Als der Bundesverband Digitale Wirtschaft die Nutzer von Handys nach der Telefonnummer des Partners fragte, musste die Hälfte der Befragten passen. Heute ist Wissen immer nur ein paar Klicks entfernt: die wichtigsten Filme von Woody Allen, die Namen der deutschen Mittelgebirge oder die Aufstellung der Nationalmannschaft im WM-Endspiel 1974. Mehr noch, selbst wer nach Filmen von Woddy Allan sucht, erhält trotz falscher Schreibweise die richtigen Antworten.

"Das Internet ist vor allem für Jugendliche ein Teil ihres Gedächtnisses geworden", beschreibt der Philosoph Michael Plauen die Situation. Die nüchterne Analyse einer Veränderung, die Kritiker als eine Bedrohung des spezifisch Menschlichen interpretieren. Sie wittern bereits den Untergang von Bildung und Kultur, in deren Strudel der Verstand gleich mitgerissen wird. Plauen, Professor für die Philosophie des Geistes an der Berliner Humboldt-Universität, mag solche Bedenken nicht so hoch aufhängen. Er wischt sie vom Tisch. "Wir entscheiden uns für ein anderes Wissen", sagt er. Das habe der Mensch schon immer so praktiziert. Seit Generationen folgen wir einem Prinzip: Verwenden oder vergessen.

Folgt man dieser Argumentation, dann erlebt unsere Gesellschaft gerade diese Phase des Umbruchs mit voller Wucht. Die Älteren müssen bekümmert feststellen, dass die nächste Generation ihr Wissen aus Quellen sammelt, die sie oft nicht kennen und denen sie misstrauen. Dabei könnten Fähigkeiten verkümmern, sagt der Philosoph und schränkt bei einer Podiumsdiskussion der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Bonn gleich ein: "Das kann schlimm sein, muss es aber nicht." Schließlich könne der Mensch falsche Entwicklungen korrigieren und auch die Telefonnummer des Partners wieder auswendig lernen, falls das nötig sei.

Doch ganz so einfach scheint es nicht zu sein. Die Neurobiologin Hannah Monyer hält das Internet für das Gedächtnis nicht unbedingt für förderlich. Die Professorin der Universität Heidelberg warnt vor allem vor Oberflächlichkeit. Sie meint damit nicht den Gehalt der Information, sondern ihre Speicherung im Gedächtnis. Wer sich kreativ mit Wissen beschäftige, behalte es länger, sagt Monyer. Es gebe Hinweise, dass die Navigationssysteme den Orientierungssinn der Menschen verändern könnten, berichtet Monyer. Aus Tierversuchen sei bekannt, dass Mäuse, die auf einem Wagen durch ein Labyrinth gezogen wurden, sich den Weg schlechter merken konnten, als solche, die ihn selbst suchen mussten.

Das klingt nach Binsenweisheit, aber Monyer sieht das Internet klar im Nachteil: Wer sich eine Webseite nur anschaue, werde sich den Inhalt schlechter merken können. Dieser oberflächliche User wird schneller vergessen, was er gelesen hat.

Derzeit kann die Wissenschaft nicht sagen, ob die extreme Verwendung des Internets Auswirkung auf die Struktur des Gehirns hat. Eine Studie mit Extrem-Nutzern wäre wohl sinnvoll. Andererseits lädt deren Aussagekraft zu Zweifeln ein. Denn es gehört zu den Stärken des Gehirns, sich den Anforderungen anzupassen. Wer sein Denkorgan fordert, verändert auch dessen Struktur. So gerät Monyers Einwand weniger zur Schelte des Internets, sondern mutiert zum Aufruf zur Kreativität. Was den alten Streit befeuert, ob Internet und Kreativität am besten als Geschwister oder als Feinde beschrieben werden.

Vielleicht wüsste Sokrates heute die Antwort darauf. Michael Plauen bringt ihn als Kronzeugen. Der griechische Philosoph wandte sich vor 2500 Jahren massiv gegen eine aus seiner Sicht moralzerstörende Neuerung: Die sogenannte Schrift sei eine dumme Erfindung. Sie werde die Leute nicht weiser machen und auch nicht erinnerungsfähiger, sondern, im Gegenteil, vergesslicher. Die Schrift gebe einem das trügerische Gefühl, alles zur Hand zu haben. Sokrates wurde nicht erhört - und sein Schüler Platon schrieb die Kritik entgegen des Rates seines Lehrmeisters nieder.

Der Streit um die vermeintlich negativen Auswirkungen des Internets wurde auch in Bonn nicht entschieden. Die Sorgen galten dem Zugang zum Wissen, der für die meisten Google heißt. Die Internet-Nutzer müssten wissen, dass Suchmaschinen ihre Ergebnisse nicht nach den Kriterien Wahrheit oder Weisheit ordnet, sondern wirtschaftliche Interessen und persönliche Neigungen eine Rolle spielen. Auch die einzelnen Web-Seiten sind oft nicht objektiv, sondern kommerziell orientiert. Deshalb sei es wichtig, verschiedene Quellen zur Gewinnung von Informationen zu kennen, empfiehlt Plauen. Ein wichtiger Bestandteil des modernen Wissens.

(RP)
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