Seit 30 Jahren auf Sendung Wie in der "Lindenstraße" Politik gelebt wird

Köln · Es ist ja so, dass Serienfans nicht nur die Serienhelden ans Herz wachsen. Es geht auch um Atmosphären, um Milieus, um das Gefühl von Vertrautheit.

Wie in der "Lindenstraße" Politik gelebt wird
Foto: RP

In den Mietshäusern an der Lindenstraße herrscht jedenfalls jene gutbürgerliche, gutmenschliche, gutmeinende, bundesrepublikanische Linksliberalität, in der Politik einen festen Platz hat. Und so hat das Schicksal mancher Figur aus der Dauerserie der Deutschen eine Wende genommen, die sie mitten hineinführte in die politischen Debatten der Zeit.

Da driftete dann Klausi in die rechte Szene ab, als im wiedervereinten Deutschland die Asylantenheime brannten, oder Schwester Marion tischte der Familie zu Weihnachten eine lebendige Gans auf, als sich Vegetarismus gerade zur ersten Teenager-Pflicht entwickelte, oder Bruder Benny flog als Ökoaktivist von der Schule. Und wenn in Deutschland gewählt wird, schauen auch die Bewohner der Lindenstraße am Sonntagabend die neuesten Hochrechnungen an und fragen sich, wie das wohl weitergeht, mit diesem oder jenem Kanzler.

Die Lindenstraße ist so politisch wie das Leben. Das heißt, in den gewöhnlichen Wohnungen der gewöhnlichen Bürger in diesem Köln-Münchner Durchschnittsviertel, in das jeden Sonntag um 18.50 Uhr die Kamera einfliegt, werden Fragen diskutiert, die bereits im politischen Raum stehen. Da werden dann Argumente dekliniert, Positionen getestet, und Figuren wie Zuschauer vergewissern sich im politischen Streit ihrer eigenen Haltung.

Und dann gibt es die gesellschaftlichen Entwicklungen, die in der Lindenstraße live durchlebt werden. Dabei haben die Drehbuchautoren manches Mal soziologische Hellsichtigkeit bewiesen. So tauschten an der Lindenstraße erstmals im deutschen Fernsehen zwei Männer Küsse aus. Und Familienbelange wie Scheidung, Adoption, Kindesmissbrauch und die Behandlung ungewollter Kinderlosigkeit waren ebenfalls schon früh ein Thema.

Atomenergie, Aids, Mauerfall, Asylrecht, verseuchte Blutkonserven, Kosovokrieg, Pisa-Test, Irak-Krieg, Hartz IV, Amoklauf, Atomstrom, Adoptionsrecht, Impfpflicht, Afd-Sieg, Pegida-Märsche - die Dialogbücher für die Lindenstraßenanwohner sind Nachschlagewerke deutscher Gesellschaftsgeschichte.

Mag Produzent Hans W. Geißendörfer auch betonen, dass seine Figuren nie ihre Parteizugehörigkeit bekennen. Die Lindenstraßen-Mitbewohner an den Bildschirmen der Republik benötigen solche Bekenntnisse gar nicht. Sie wissen ohnehin, dass Vater Beimer ein Sozi ist. Und Doktor Dressler ein Liberaler. Denn die Helden des Alltags machen ja aus ihren Ängsten, Hoffnungen, Überzeugungen keinen Hehl. Sie beobachten, was die Politiker tun, und streiten darüber. Stellvertretend. Sie leben ihr Lindenstraßenleben. Im Spiegel unserer Zeit.

(RP)
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