Interview: Serie Rheinische Pioniere (5) Wim Wenders - Eroberer der dritten Dimension

Wim Wenders hat 3D für den Dokumentarfilm entdeckt und mit dem Tanzfilm "Pina" gleich ein Meisterwerk geschaffen.

Als die ersten Kanonenkugeln, Glitzersterne und Autowrackteile dreidimensional in den Kinosaal flogen, hielten viele 3D für eine prima Spielerei. Ein teures Effektmittel für Action-Spezialisten.

So dumm war Wim Wenders nie. Früh hat er erfasst, dass 3D das Sehen verändert - und damit das Erzählen. Weil erst die 3D-Kamera tatsächlich in die Tiefe des Raums vordringt und Bilder hervorbringt, so plastisch wie die Wirklichkeit. Wenders erkannte, dass die dritte Dimension Menschen im Kino ein neues Gefühl für das Volumen von Körpern und deren Bewegung im Raum vermitteln würde - und Dokumentarfilmern damit eine neue Art der Authentizität eröffnen könnte. Darum hat er angefangen, mit seinem Team an einer 3D-Kamera zu tüfteln, die beweglich genug sein würde für den Einsatz in der Wirklichkeit.

Dabei ist Wenders kein Bastler. Aber er ist ein Filmemacher, der glaubt, dass Geschichten selbst vorgeben, wie sie erzählt werden wollen. Und da war eine Geschichte in seinem Kopf, die hatte auf die dritte Dimension gewartet. "Technik an sich ist langweilig", hat er mal gesagt, "Technik wird erst relevant, wenn sie einem ermöglicht, etwas zu erzählen, was man vorher nicht erzählen konnte." Wim Wenders hat auf neue Art erzählt. Von Pina Bausch, von der Selbstreflexion des Menschen durch den Tanz, vom Erzählen ohne Worte. So ist er zum Pionier geworden. Zum Eroberer der dritten Dimension für den Dokumentarfilm.

Es war eine einsame Tat. Als Wenders 2008 seinen Film über das Werk der Wuppertaler Choreografin begann, war wenig darüber bekannt, wie man 3D-Kameras leichter und wendiger machen könnte und was man verändern müsste, um so helle Bilder zu gewinnen, dass sie durch einen ganzen Film tragen. James Cameron tüftelte damals im Geheimen an "Avatar", dem ersten Spielfilm, der die 3D-Technik revolutionär einsetzen sollte. Ansonsten war die dritte Dimension jenseits der Effekthascherei weitgehend unerforscht. Wenders konnte also keine Kollegen um Rat bitten, sich mit kaum jemandem austauschen über die Technik, die er sich für seinen neuen Film in den Kopf gesetzt hatte. Und dann starb Pina Bausch.

An solchen Punkten geben Menschen auf. Und auch Wim Wenders erklärte das Projekt zunächst für beendet. Der Tod hatte seine Pläne zunichte gemacht, dem wollte er sich fügen. Aber etwas hat ihn nicht zur Ruhe kommen lassen. Und diese Unruhe, dieses Wissen darum, dass da noch eine Chance schlummerte, eine Geschichte auf revolutionäre Art erzählt werden könnte, die zeichnet den Pionier wohl aus. Wenders jedenfalls wollte den Raum mit der Kamera erobern, das Kino lehren, zu sehen wie der Mensch. Und so machte er keinen Film über Pina, sondern einen für Pina - einen Film über ihren Blick auf die Welt.

Die technische Pionierleistung blieb den meisten Zuschauern verborgen, seine Wirkung verfehlte der Film nicht: Mehr als 500 000 Menschen allein in Deutschland haben sich "Pina" angeschaut. Ein für Dokumentarfilme außergewöhnlicher Erfolg, der wohl auch damit zusammenhing, dass die Kinozuschauer sich plötzlich mit den Tänzern auf der Bühne zu bewegen schienen, tief mit hineingenommen wurden in ein Werk und es im Kino neu verstanden. Pina Bausch hat mit ihren Tänzern eine eigene Sprache erfunden, die aus den Bewegungen von Menschen buchstabiert und darum intuitiv verstanden wird. Von Mensch zu Mensch. Wim Wenders hat das mit einer Kamera erfasst, die den Körper auf einer flachen Leinwand doch als Volumen erscheinen lässt. Er hat dafür eine Technik genutzt, die Bilder versetzt auf die Leinwand projiziert. Erst im Kopf des Zuschauers ergibt sich das unverzerrte Bild - wie beim natürlichen Sehen auch. So ist die Technik für Wenders nicht nur eine Spielerei, ein Effekt, ein Zusatz. Sie dient einer Humanisierung des Kamerablicks, nimmt dem Medium Film ein Stück seiner Künstlichkeit - und ist damit wie gemacht für das Werk der Pina Bausch.

Doch natürlich ist Wenders nicht nur ein Pionier der 3D-Technik. Er hat mit "Buena Vista Social Club" einen der erfolgreichsten Dokumentarfilme aller Zeiten geschaffen, den mehr als eine Million Menschen gesehen haben. Damals spielte ihm die Digitalisierung in die Hände. Er habe den Film nur machen können, weil er mit der Digitalkamera so lange drehen konnte, wie er mochte, nicht mehr auf knappe Einstellungen angewiesen war wie noch zu Filmband-Zeiten.

Auch diesen Techniksprung hat Wenders inhaltlich genutzt, hat mit seiner Hommage an den kubanischen Musiker Ibrahim Ferrer und seine Leute einen Lebens-Musikfilm geschaffen. Er hat Künstler in ihrer Heimat porträtiert, das bröckelnde Havanna und die Musik, die nur dort entstehen kann. Die Dokumentation ist einer der ersten Filme, die komplett digital gedreht wurden. Als Kameras nutzten Wenders und sein Kameramann Jörg Widmer eine Digital Betacam als schwebende Steadicam und Mini-DV-Kameras aus Wenders' Besitz. So hat er dank einer technischen Neuerung eine neue Qualität von Musikfilm geschaffen, eine Doku, die von Musikern und ihrem Land handelt, von der Notwendigkeit ihrer Musik. Und ein Film, der in seiner spontanen Echtheit nur möglich wurde, weil ein Regisseur die Kamera laufen lassen konnte.

Wenders ist ein musikalischer Filmemacher. Nicht nur, weil er Musikdokumentationen gedreht hat. Auch in seinen Spielfilmen spielt die Musik eine besondere Rolle, gelingt es dem Regisseur, Bilder und Musik so zu kombinieren, dass etwas Drittes entsteht, ein neuer Sinn, der nur von beiden Künsten gemeinsam geschaffen werden kann. Man muss nur den "Himmel über Berlin" einmal ohne Musik schauen. Man sieht dann einen anderen Film. Erst mit der Musik entsteht jene melancholische, transzendente Stimmung, die bei diesem Werk so in den Bann schlägt.

Natürlich kann man in Wenders auch einen Pionier im Umgang mit Landschaften sehen. In vielen seiner Werke unternehmen Figuren lange Entwicklungsreisen durch markantes Gelände, schlagen sich durch Wüsten, Prärien, Wolkengebirge, um sich zu häuten und zu reifen. Bei Wenders sind die Umgebungen nie austauschbar, gehören Geschichten unbedingt an die gewählten Orte, nähren sich aus ihrer Landschaft.

Es ist der Maler Wenders, der da Filme macht und das bewegte Medium als Verlängerung der Malerei behandelt. Eigentlich wollte Wenders ja Maler werden. 1945 in Düsseldorf geboren, studierte er erst Medizin, Philosophie, Soziologie, brach alles ab, ging nach Paris, wollte dort das Aquarellieren studieren. Damals geriet er in die Cinémathèque, geriet in den Sog der bewegten Bilder, sah Hunderte Filme - und verstand sie als Malerei mit anderen Mitteln.

So ist Wenders zu einem Wanderer zwischen den Medien geworden, der Technik entwickelt, um ästhetische Ideen zu verwirklichen. Ein Filmemacher mit dem Willen zum Fortschritt. Ein Pionier.

Als nächstes stellen wir in unserer Serie den Manager und Politiker Werner Müller vor.

(RP)
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