"Wir müssen mit Fundstücken anders umgehen"

Der Archäologe Stephan Seidlmayer, der den mit 100 000 Euro dotierten Henkel-Preis bekommt, spricht über die Zukunft von Museen und Archäologie.

Wie groß ist der archäologische Schaden in Ägypten, der aus Raubgrabungen entsteht?

Seidlmayer Wir haben immer noch größere Schwierigkeiten mit Raubgrabungen im Gelände. Aber mittlerweile bin ich optimistisch.

Weiß man ungefähr, was in den politisch unsicheren Zeiten verloren gegangen ist?

Seidlmayer Es gab zwei große Problembereiche. Der eine war das Ägyptische Museum in Kairo, aus dem 2011 ein gutes Dutzend Objekte geraubt wurde; diese konnten größtenteils zurückgewonnen werden. Der andere Fall war die Plünderung des Museums von Mallawi - ein extremes Ereignis. Dort wurden mehr als 1000 Objekte gestohlen.

Ist Ihre Hilfe vor Ort in diesen Krisenzeiten auch ein Beitrag zur Völkerverständigung?

Seidlmayer Auf jeden Fall. Wir sind in Ägypten ja nicht nur, um unseren eigenen Forschungsinteressen nachzugehen, sondern wir versuchen immer auch die aktuellen Notwendigkeiten des Landes selbst im Auge zu haben; die Sicherung der archäologischen Plätze, die Restaurierung und Konservierung von Objekten. Außerdem helfen wir, Ausgrabungsorte insbesondere auch für das ägyptische Publikum zugänglich zu machen.

Wie stark werden Sie dabei von touristischen Interessen bedrängt?

Seidlmayer In Ägypten ist das - im Gegensatz zu manch anderen Ländern - kaum der Fall. Aber es müssen immer verschiedene Interessenbündel berücksichtigt werden.

Welche neuen Erkenntnisse zur altägyptischen Kultur können uns überhaupt noch einzelne Funde bieten?

Seidlmayer Es geht nicht einfach darum, noch mehr Details zu erfahren. Die archäologische Forschung muss qualitativ neu verstanden werden. Aktuell gehört dazu zum Beispiel die sogenannte Landschaftsarchäologie. Früher hat man versäumt, die Denkmäler in ihren jeweiligen Landschaften zu sehen und vor allem in der Veränderlichkeit dieser Landschaft. Auf der Basis geowissenschaftlicher Einsichten können wir plötzlich lange gesuchte monumentale Bauwerke auch fünf Meter unter Erde finden und ausgraben. Mit dreidimensionalen, digitalen Geländemodellen sind wir in der Lage, besser und neu zu verstehen, wie sich Stadtanlagen entwickelt haben. Es geht in der Archäologie also nicht mehr darum, das Bekannte und Gleichartiges zu vermehren und ein grundsätzlich stabiles Bild der Archäologie Ägyptens um Details zu erweitern, sondern es geht darum, wirklich grundsätzlich neue Fragen an das Fundmaterial heranzutragen.

Muss man dann nicht auch andere, weit komplexere Formen der Präsentation finden?

Seidlmayer Definitiv ja. Das Konzept vom Museum des 19. Jahrhunderts, in dem man tolle Fundstücke isoliert in eine Vitrine gestellt hat, ist heute nicht mehr aktuell. Deshalb überdenken ja auch archäologische Museen ihre Ausstellungskonzepte. Wir brauchen die Museen, um Fundstücke zu bewahren, die man nicht im Gelände stehen lassen kann, und als Orte der Forschung am Objekt. Zentral aber ist immer der archäologische Platz selbst, nicht isoliert, sondern in seinem landschaftlichen und kulturellen Kontext. Erst aus dieser gesamten Atmosphäre ergibt sich für Besucher ein signifikantes Erlebnis.

Wobei zunehmend auch touristische Interessen bei den Ausgrabungen eine Rolle spielen, die für die Menschen vor Ort mitunter eine Lebensgrundlage sein können.

Seidlmayer Da haben Sie völlig recht. Und ich habe mit solchen Erfordernissen auch überhaupt kein Problem. Historische Wissenschaft handelt von Menschen, die im Prinzip in gleicher Weise ihre Interessen abgewogen haben wie die Menschen der Gegenwart. Die Archäologie kann nicht als Klotz am Bein einer Gesellschaft hängen. Der Umgang mit den archäologischen Plätzen muss stets die Entscheidung einer freien gesellschaftlichen Willensbildung sein. Unsere Rolle ist es nicht, weltfremde Forderungen zu stellen. Aber unsere Aufgabe ist es, sachliche Information in einer zugänglichen Art zu verbreiten. Nur so kann die gesellschaftliche Willensbildung auf der Basis solider Kenntnis erfolgen. Es reicht keineswegs, spezialistische Bücher zu schreiben. Wir müssen uns auch an diese Gesellschaft insgesamt wenden.

Hand aufs Herz: Wären Sie der Entdecker der Nofretete gewesen, hätten Sie sie auch mit nach Berlin genommen?

Seidlmayer Nach der heutigen Rechtslage und dem heutigen archäologischen Verständnis verlässt kein einziges Objekt mehr das Fundland. Wir bemühen uns immer darum, jedes Fundstück in seinem Zusammenhang darzustellen und verständlich zu machen. Der Fund der Nofretete vor über 100 Jahren stammt aus einer anderen Zeit. Von der Situation damals trennen uns 100 Jahre der Entwicklung archäologischen Denkens und 100 Jahre der Entwicklung unserer Vorstellung von der kulturellen Zusammenarbeit der Nationen.

Ist die Rückführung der Nofretete in Ägypten immer noch ein Thema?

Seidlmayer Ich glaube, dass die ägyptische Öffentlichkeit immer so empfinden wird, dass Nofretete eigentlich in Ägypten sein sollte. Aber auch in Ägypten werden die historischen Zusammenhänge verstanden. Deshalb fällt durch diese Vergangenheit auch kein Schatten auf unsere Kooperation.

LOTHAR SCHRÖDER FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

(RP)
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