Düsseldorf Zur Schule bitte nur mit dem Geländewagen!

Düsseldorf · Helikopter-Eltern kreisen über ihren Kindern, kontrollieren sie, wollen nur ihr Bestes. Dem Nachwuchs schadet das, sagen Experten.

Da gibt es eine Mutter in der bayerischen Provinz. Der Familie geht es gut, sie gehört der oberen Mittelschicht an. Auf dem Weg zur Schule fährt der Sohn regelmäßig im Wagen der Nachbarin mit, ihr Nachwuchs geht auf dasselbe Gymnasium. Zwei Autos haben die Nachbarn zur Verfügung - einen kleinen Fiat und einen Geländewagen der Marke BMW. Doch der Kleinwagen ist nicht gut genug. "Bitte nimm den BMW, wenn mein Sohn mitfährt", sagte die Mutter aus der bayerischen Provinz einmal zu ihrer Nachbarin. "Der hat wenigstens eine große Knautschzone."

Helikopter-Eltern wollen nur das Beste für ihre Kinder. Sie werden so genannt, weil sie ständig um und über ihrem Nachwuchs kreisen, ihn behüten, vor vermeintlichen Gefahren schützen und Konflikte aus dem Weg räumen wollen. Sie kontrollieren detailliert, wie das Kind aufwächst, um ihm bestmögliche Bedingungen zu bieten. Sie wünschen sich, dass das Kind einmal erfolgreich sein wird, einen guten Abschluss machen kann - in ständiger Sorge, es würde sonst irgendwann aus der Mittelschicht fallen.

Aber ist das so verwerflich? Wollen nicht alle Eltern, dass es ihrem Kind gut geht? Josef Kraus hat sein Urteil längst gefällt: "Natürlich sollen Eltern ihre Kinder nicht vernachlässigen, das wäre schlecht. Zu viel Förderung und zu viel Behütung schaden Kindern aber genauso." Kraus ist seit 36 Jahren Lehrer, seit fast 20 Jahren Direktor an einem Gymnasium bei Landshut und seit 1987 Chef des Lehrerverbands. Kraus ist Experte und will, dass das alle wissen. Als Autor reist er durchs Land, um Vorträge über sein Buch "Helikopter-Eltern" zu halten. Die Leute hören dem 64-Jährigen zu, auch, weil sie sich selbst gerne einen Spiegel vorhalten lassen. Sind wir nicht alle ein bisschen Helikopter, fragen sie. Und wenn ja, warum?

Die Kraus'sche Theorie geht so: Heute bekommen die Menschen deutlich später Kinder als früher. Das liegt teils an der zunehmenden Akademisierung und daran, dass viele Frauen auch erst beruflich etwas schaffen wollen, bevor das erste Kind geboren wird. Häufig bleibt es dann bei einem Kind - im Schnitt 1,34 pro Familie - auf das sich all die elterliche Fürsorge projiziert. Hinzu kommt ein gestiegenes Wohlstandsniveau, eine rasante Digitalisierung und der öffentliche Leistungsdruck, bei der Erziehung nicht versagen zu dürfen, sagt Kraus. Und schon sei der ideale Nährboden bereitet, von dem Helikopter-Eltern nur allzu leicht abheben können.

Dafür ist es übrigens unerheblich, wie alt das Kind ist. Angeheizt vom Marketing einer Milliarden-Euro-Industrie meinen Eltern, sie müssten den Fötus im Mutterleib mit künstlichen Herzschlägen beschallen, um die Entwicklung des Gehirns anzuregen. Ist das Kind geboren, wird es im Schlaf von einem Babyfon überwacht, das längst nicht mehr nur Geräusche weitergibt. Das Gerät liefert ein Videobild, misst etwa zur Früherkennung von Bränden die Raumtemperatur und Luftfeuchtigkeit und spielt auf Knopfdruck Schlaflieder ab.

Später, in der Schule oder schon im Kindergarten, bekommen Kinder Smartphones geschenkt, mittels derer sich das Bewegungsprofil des Nachwuchses überwachen lässt. Spezielle Computersoftware erlaubt es den Eltern, die Textnachrichten zu prüfen - selbst, wenn diese gelöscht wurden. Und der Terminkalender mancher Schulkinder gleicht wegen Klavierunterrichts, Sprachförderung, Ballett und Reiten dem eines Top-Managers. Hat es dann die Abiturprüfung erfolgreich abgelegt, lassen sich die Eltern bei einem auf sie zugeschnittenen Info-Tag an der Uni vom Dekan erklären, warum es ihr Kind an dieser Hochschule am besten haben wird.

Wo soll das hinführen? Josef Kraus warnt gerne vor einer Generation verzogener und unselbstständiger Kinder. Weil Helikopter-Eltern ihrem Nachwuchs keinen Freiraum gäben Fehler zu machen und daraus zu lernen, bleibe zudem das Selbstbewusstsein auf der Strecke. Seine Kritiker, allen voran der stellvertretende Vorsitzende des Bundesverbandes "Aktion Humane Schule", Detlef Träbert, werfen Kraus unterdessen vor, ein ewig Gestriger zu sein, der Eltern mit seinem Buch keine Hilfestellungen biete, sondern nur rückwärtsgewandt auf "Mut zu Autorität und Vorbild" verweise.

Tatsächlich appelliert Josef Kraus gerne und häufig: Eltern müssten sich klar machen, dass Erziehung nur bedingt planbar sei. Eine Portion Intuition sei nötig, um dem Kind nötige Freiheiten zu bieten, Konflikte selbst auszutragen. Freies Spielen und Raufen sei wichtig, damit sich Kinder in Gruppen behaupten und zurechtfinden könnten. Und eine kenntnisreiche Vorbildrolle beim Medienkonsum entscheidend, damit der Nachwuchs dem Überangebot nicht hilflos ausgeliefert ist.

An der Schule in der bayerischen Provinz hat unterdessen eine Mutter echte Hingabe bewiesen: Um dem Sohn mit den Lateinhausaufgaben helfen zu können, hat sie sich für einen Kursus bei der Volkshochschule eingeschrieben.

(jd)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort