Neu-Delhi Zebrastreifen schmilzt bei 48 Grad

Neu-Delhi · Indien stöhnt unter der schlimmsten Hitzewelle seit Jahren. Mehr als 1800 Menschen sind bereits gestorben - so viele wie seit 20 Jahren nicht mehr bei einem solchen Ereignis. Die meisten sind Arme, Kranke und Obdachlose.

Der Fahrtwind in der Autorikscha fühlt sich an, als würde einem ein heißer Fön ins Gesicht blasen. Das Wasser aus den Leitungen ist so warm, dass eine kühle Dusche ein Traum bleibt - wenn überhaupt Wasser aus der Leitung kommt. In vielen Vierteln tröpfelt es nur noch aus dem Hahn. Und in der Hauptstadt Delhi schmilzt sogar der Straßenasphalt. Indien ächzt unter der schlimmsten Hitzewelle seit Jahren.

Binnen zehn Tagen starben mindestens 1826 Menschen an Hitzschlag und Dehydrierung. Das ist die höchste Zahl seit 20 Jahren. Die meisten Todesopfer sind Arme, Alte, Kranke und Obdachlose. Bis zu 48 Grad erreichen die Temperaturen in der Spitze, von einer "Killer-Hitzewelle" sprechen die Medien. Besonders schlimm ist die Lage im Südosten des Landes. Allein in den Bundesstaaten Andhra Pradesh und Telangana sollen inzwischen fast 1700 Menschen der Rekordhitze erlegen sein.

Die Hospitäler sind so überlaufen mit Hitzeopfern, dass viele zu dritt in einem Bett liegen. Sie leiden an Kopfschmerzen, Krämpfen, Schwindel und Übelkeit. Die Regierung rät den Menschen, zuhause zu bleiben. Doch für viele Arme gehen die Ratschläge an der Realität vorbei. Bauarbeitern, bitterarmen Tagelöhnern und Bauern bleibt kaum etwas anders übrig, als in der Gluthitze zu schuften, wollen sie ihre Familien ernähren. Auf der Straße fühlt man sich wie im Backofen. Obdachlose liegen apathisch im Schatten von Bäumen und Gebäuden. Vielen mangelt es an ausreichend Wasser. Das wird zusehends zum raren Gut. In Maharashtra waren Tausende Tanklaster unterwegs, um Wasser in Dörfer zu bringen. Andernorts richteten Behörden Wassercamps ein. Experten warnen, in einigen Jahrzehnten könnte es in Asien zu Wasserkriegen kommen.

Schuld an dem extremen Wetter sind heiße Westwinde aus Pakistan und Afghanistan, die neben den Spitzentemperaturen auch Staub und Wüstensand mit sich bringen. In Delhi stieg zugleich die Luftverschmutzung auf alarmierende Werte. Die Dauerhitze schlaucht den Körper, viele Menschen sind am Rande ihrer Kräfte. Und es gibt keine Atempause. Selbst die Nächte bringen kaum Abkühlung. In Städten wie Delhi heizen sich die Mauern der Gebäude auf, zudem blasen Klimaanlagen heiße Luft nach draußen. Die Armen flüchten nachts auf Dächer oder wickeln sich in nasse Laken ein. "Ich mache kaum noch ein Auge zu", klagt die 28-jährige Priyanka, die mit ihrer Familie in Bhogal, einem überfüllten Armenviertel Delhis, wohnt. Kleinkinder schreien stundenlang, weil die Hitze sie wachhält. Wer es sich leisten kann, verbringt die Tage unter der Klimaanlage. Weil aber der Stromverbrauch in der Hitzeperiode rasant anschwillt, fällt der Strom oft über Stunden aus. Dann steht alles still. Auch die Wasserpumpen. Ohnehin haben bis heute ein Viertel der 1,3 Milliarden Inder keinen Strom. Magen-Darm-Krankheiten greifen um sich, weil die Lebensmittel in der Gluthitze verderben. Die Reicheren flüchten im Sommer lieber in kühlere Gefilde. In die Berge oder gleich ins Ausland, etwa nach Europa oder in die USA. Indien zählt zu den heißesten Regionen dieser Welt. Experten warnen, der Klimawandel werde die Lage verschärfen. Das Land müsse künftig immer häufiger mit extremen Hitzewellen rechnen.

"Die Zahl der Hitzewellen-Tage könnte von fünf auf 30 bis 40 pro Jahr steigen", sagte Arjuna Srinidhi vom Zentrum für Wissenschaft und Umwelt der Zeitung "The Hindu". Das schlägt auf die Wirtschaftskraft des Landes, in dem noch immer jeder Dritte unterhalb der Armutsgrenze lebt. In der Hitze ist es kaum noch möglich, im Freien zu arbeiten.

Verzweifelt wartet das Land auf den Monsun, der Abkühlung und ein Ende des Leids bringt. Über Teilen von Andhra Pradesh und Telangana bildeten sich erste Wolken. Meteorologen hofften nun auf Schauer. Doch es wird noch viele Wochen dauern, bis der Monsun endlich alle Teile des Landes erreicht.

(RP)
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