1914 — Den Briten war Deutschland unheimlich

Welch einen Aufstieg hatte Deutschland nach der Reichseinigung 1871 erlebt! Die Grenzen waren nach den siegreichen Kriegen gegen Dänemark, Österreich und Frankreich weit nach Norden und Westen verschoben worden. Reichskanzler Otto von Bismarck beherrschte mit seiner komplizierten Politik der Zwei- und Dreistaatenbünde und der Rückversicherungen über zwei Jahrzehnte die Diplomatie Europas. Berlin stieg zur wirtschaftsstärksten Stadt Europas auf, während die deutschen Konzerne Krupp, Siemens, Bayer, Hoechst und AEG die Weltmärkte eroberten. Die Sprache der exakten Wissenschaft war Deutsch, die Universitäten, Forschungsinstitute und Labore des Landes suchten ihresgleichen. Die Löhne der Arbeiter zogen an, die Lebenserwartung stieg. Zugleich nutzte kein Land so effizient sein Bevölkerungspotenzial für militärische Zwecke. "Europa hat eine Mätresse verloren und einen Herrn gewonnen", hieß es allenthalben, wenn die Sprache auf das einst in unzählige Fürstentümer zerstückelte Land kam.

Für die etablierten Mächte Europas - die gewaltige Kolonialmacht Großbritannien mit ihren rund 450 Millionen Einwohnern (mehr als China), das wiedererstarkte Frankreich sowie das sich mit aller Macht entwickelnde Russland - war Deutschland ein Störenfried. Es galt als mächtig und aggressiv, als effizient und fortschrittlich. Als es seinen "Platz an der Sonne" einforderte, etwa eine größere Flotte oder Kolonien in Übersee, fanden die anderen, das Reich überspanne den Bogen. Langsam, aber sicher zog sich die Schlinge um Deutschland und seinen einzigen Verbündeten zu, den politischen Riesen auf tönernen Füßen, Österreich-Ungarn.

Die andere Großmacht, die in dieser Zeit von sich reden machte, waren die Vereinigten Staaten. Während Deutschland bei seiner Wirtschaftsproduktion erst 1911 an Großbritannien vorbeizog, waren die USA bereits 1870 die größte Industrienation der Welt. Einen Titel, den sie bis heute bewahrt haben. Die freie amerikanische Wirtschaft war ein Eldorado für Erfinder, Wissenschaftler und Industrielle. Sie verwandelten die neue Welt in den Motor der Weltwirtschaft.

Doch politisch spielten die USA noch keine große Rolle. Es galt noch die Monroe-Doktrin, wonach sich die Amerikaner jegliche Einmischung in ihre Hemisphäre von europäischer Seite verbaten, aber auch nichts mit dem alten Kontinent am Hut hatten. Erst mit dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg 1917 sollte sich das dramatisch ändern. Und der Rest der Welt? Afrika war zwischen Großbritannien und Frankreich, zu kleineren Teilen auch Deutschland, Italien und Belgien aufgeteilt. China und Japan waren gedemütigt, Indien war Teil des Britischen Empire.

Das von Deutschland und den USA gestörte Gleichgewicht war indes nicht stabil. Misstrauen und ein ständiger Rüstungswettlauf untergruben den Frieden. Im großen Krieg von 1914 bis 1918 ging die alte Konstellation unter. Großbritannien verlor seine Weltmachtstellung an die USA, Deutschland wurde eine völlig unkontrollierbare Größe, und in Russland siegte die erste kommunistische Revolution.

(kes)
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