Rom 600 000 Afrikaner vor Flucht übers Mittelmeer

Rom · Die italienischen Geheimdienste warnen, die Hilfsoperation "Mare Nostrum" könne eine massive Flüchtlingswelle begünstigen.

Es sind immer wieder die gleichen Bilder: Hölzerne Fischkutter überladen mit Menschen tauchen vor der Küste Italiens auf. Erst vor wenigen Tagen gelangten auf diesem lebensgefährlichen Weg 730 afrikanische Flüchtlinge, unter ihnen Kinder und Frauen, sieben von ihnen schwanger, ins gelobte Europa. Beinahe täglich werden Boote im Kanal von Sizilien von den Hubschraubern und Drohnen der italienischen Marine gesichtet. "Es herrschte ein unvorstellbares Gedränge von Menschen", schilderte Kommandant Mario Culcasi seine Eindrücke von der Situation an Bord eines Kutters.

Culcasis Schiff "San Giorgio" setzte sich mit zwei anderen Booten in Bewegung und eskortierte die Flüchtlinge sicher an Land. "Mare Nostrum" ("unser Meer") nennt sich die Operation, die Italien nach dem Tod von 366 Afrikanern vor der Küste Lampedusas im vergangenen Oktober veranlasste. "In weniger als sechs Monaten sind über 17 000 Migranten gerettet worden", sagte Culcasi.

Doch die humanitäre Aktion hat offenbar auch einen weiteren Effekt: Immer mehr Flüchtlinge — vor allem aus den Kriegsländern Syrien, Somalia und Eritrea — wagen die lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer. Die oft Tage dauernde, von nordafrikanischen Schleppern organisierte Odyssee ist dank "Mare Nostrum" sicherer geworden.

Europa, so warnt die italienische Regierung, stehe vor einem neuen Ansturm der Armen: "Unseren Informationen zufolge warten zwischen 300 000 und 600 000 Personen in Nordafrika darauf, über das Mittelmeer zu setzen", sagte jüngst Italiens Innenminister Angelino Alfano. Seit Beginn des Jahres hätten etwa 12 000 Flüchtlinge Italien auf dem Seeweg erreicht, so viele wie im Jahr 2012 insgesamt aus Nordafrika gekommen waren. In den ersten drei Monaten des Jahres 2013 waren es gerade einmal 1500 Flüchtlinge, die die italienische Küste erreichten. Die Zahlen belegen den Anstieg. Die italienischen Geheimdienste warnen bereits, Hunderttausende seien kurz davor, die Überfahrt zu wagen. Vor allem aus Libyen, wo es nach dem Bürgerkrieg kaum effektive Grenzkontrollen gibt.

"Das ist nicht nur ein italienisches Problem", warnte Innenminister Alfano. Er forderte die Verstärkung der Bemühungen der EU-Grenzschutzagentur Frontex und die Revision der Dublin-II-Verordnung. Nach ihr müssen Flüchtlinge in dem EU-Land Asyl beantragen, in dem sie europäischen Boden betreten haben. Italien fühlt sich durch seine Lage am Mittelmeer von dieser Regelung benachteiligt.

Auch der italienische Flüchtlingsrat Cir bestätigt die steigende Tendenz bei den Überfahrten. Der deutsche Cir-Direktor Christopher Hein warnt jedoch vor "Panikmache". Schon häufig sei fälschlicherweise von "Invasionen" die Rede gewesen. Die Schätzungen des italienischen Innenministeriums seien "nicht realistisch". In Deutschland hätten im vergangenen Jahr 127 000 Menschen Asyl beantragt, in Italien nur 27 000. Hein sprach sich gegen die Abschottung der Grenzen aus und forderte die EU-Staaten auf, Italien bei der humanitären Operation "Mare Nostrum" besser zu unterstützen. Bislang bekommt Italien nur eine geringe Unterstützung von Slowenien. "Es müsste eine Aufgabe der gesamten EU sein, gegen den Verlust von Menschenleben im Mittelmeer zu kämpfen", heißt es vonseiten des Flüchtlingsrats.

(RP)
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