Kandahar "Rocket attack! Rocket attack!"

Kandahar · Unser Autor beschreibt den jüngsten Angriff von Taliban-Kämpfern auf das Nato-Lager im afghanischen Kandahar.

Ablauf des Taliban-Angriffs im Kandahar
Foto: dpa, ba lb

Kandahar Airfield, Afghanistan, einen Tag nachdem die Taliban das riesige Nato-Camp im Süden des Landes mit Raketen und Kämpfern attackiert haben. Obwohl der Angriff noch nicht komplett beendet ist, dürfen sich die Menschen in diesem Teil des Lagers mittlerweile wieder frei bewegen - allerdings nur mit Helm und Splitterweste. Die meisten halten sich an die Anweisung, andere haben die viele Kilo schwere Schutzausrüstung nur in Griffweite.

Aus der Ferne sind Schüsse zu hören. Überall Soldaten in ihren beige-braunen Kampfanzügen, alle tragen Sturmgewehre, in der Luft kreisen Helikopter der US-Streitkräfte, vom nahen Flughafen starten Kampfjets.

Am Dienstagabend hatte der Angriff begonnen, gegen 17 Uhr, bei Einbruch der Dunkelheit: Sirenen heulen, eine Frauenstimme gellt aus den über das Areal verteilten Lautsprechern. "Rocket attack! Rocket attack!"

Wer draußen unterwegs ist, verlässt sofort sein Fahrzeug, rennt zum nächsten Bunker. Diese Schutzräume stehen überall auf dem Gelände: garagenähnliche Bauwerke, zehn Meter lang, zwei Meter hoch, zwei Meter breit; 40 Zentimeter dicke Betonwände mit einer noch wuchtigeren Decke. Leicht versetzte, massive Blöcke sichern die beidseitig offenen, schmalen Zugänge.

Drinnen gespanntes Warten. Nach 40 Minuten dann eine neue Lage: "Ground attack!", verkündet nun eine männliche Stimme in amerikanischem Englisch. Alle rennen aus dem Bunker in das nächstgelegene Gebäude und müssen dort abwarten. Es ist inzwischen fast 18 Uhr, eine lange Nacht beginnt. Eine Zeit der Gerüchte und Spekulationen.

Ein Taliban-Sprecher twittert, mehrere Kämpfer seien getötet worden, aber auch einige ausländische Soldaten. Deutsche Medien melden, dass der Flughafen angegriffen wurde - ein Missverständnis, weil die gesamte Basis "Airfield" heißt. Der Flughafen nimmt aber nur einen Teil in der Mitte des fast 20 Quadratkilometer großen Areals ein. Kaum eine Chance für Angreifer, ihn zu erreichen.

Nach und nach wird in dieser Nacht zu Mittwoch klar, was geschehen ist: Taliban-Kämpfer haben einen außerhalb des Lagers liegenden Kontrollpunkt attackiert, der von afghanischen Kräften gehalten wird. Da aber hinter diesem Stützpunkt einer der wichtigsten Eingänge zum Camp liegt und niemand ausschließen kann, dass vielleicht doch jemand eingedrungen ist, herrscht höchste Alarmstufe. Zumal in diesem Bereich die meisten der rund 8000 Bewohner des Camps untergebracht sind.

Bis 2 Uhr müssen die Menschen dort ausharren, wo sie zu Beginn des Angriffs Schutz gesucht haben; erst dann dürfen alle wieder in ihre Unterkünfte. Die Nacht bleibt trotzdem unruhig: Zweimal greifen die Taliban mit Raketen an, Gewehrfeuer ist zu hören, zweimal schwere Detonationen. Ein Kampfjet dröhnt durch die tintenschwarze Nacht.

Inzwischen hat es begonnen zu regnen, ungewöhnlich in dieser staubtrockenen Gegend. Wie aus der Dusche rauscht das Wasser zu Boden.

Der Mittwochmorgen bringt eisige Kälte und stahlblauen Himmel. Im Camp herrscht gespannte Stimmung, aber weder Nervosität noch Angst. Man kennt die Gefahr. Immer noch sind Schüsse zu hören. In einer der Kantinen tauchen Soldaten auf - drei Männer, eine Frau, alle bewaffnet. Sie holen Proviant für ihre Kameraden, die draußen kämpfen. Sie wirken ernst, konzentriert und müde.

In Windeseile werden Dutzende Plastikboxen mit Brot, Eiern, Schinken und Würstchen gefüllt und kurzerhand in Müllsäcken verstaut. Dann braust die Gruppe in zwei Jeeps davon. Auch wenn es alle brennend interessiert - keiner wagt es, die Soldaten nach der Lage zu fragen. Sie würden eh nichts sagen.

Nur wenige Menschen sitzen in der Kantine mit ihren rund 100 Plätzen. Der Gastraum wird durch anderthalb Meter hohe Mauern unterteilt, verziert mit Plastikblumen.

Was aussieht wie Deko, ist in Wahrheit ein Schutz aus Beton, versteckt hinter Kunststoff-Tapeten. Sollte hier drinnen eine Bombe explodieren, würden die Mauern die Detonation eindämmen. Schlecht für alle in der Kantine, gut für alle draußen. So baut man hier, seit vor einigen Jahren ein Selbstmord-Attentäter in der Cafeteria eines irakischen Camps viele Soldaten tötete.

Auch im Freien prägen Schutzwälle das Bild: meterhohe Betonelemente lückenlos über viele Hundert Meter, hoch gestapelte Sandsäcke, Poller, Zigtausende Meter gerollter Nato-Draht. Das Camp ist eine Festung aus Stahl und Beton, rundherum Wachtürme, gepanzerte Lkw mit aufmontierten Maschinengewehren, in der Luft, 200 Meter hoch und an Seilen befestigt, schweben Fesselballons. Die wuchtigen Zigarren sind mit Kameras ausgestattet, mit denen sich das Umfeld des Lagers beobachten lässt.

Den ganzen Tag lang läuft der Betrieb des Flughafens weiter, jedoch sieht man nur eine einzige zivile Maschine. Ein vierstrahliger, dunkelgrauer Hercules-Lufttransporter der US-Airforce hebt ab, Aufklärungsmaschinen steigen hoch. Und immer wieder schwarze Drohnen: Fetten Hornissen gleich sitzen sie am Boden, um dann mit bösem Brummen und ebenso merkwürdig unbeholfen zu ihrem Job aufzubrechen. Ob sie töten oder nur beobachten, ist ihnen nicht anzusehen.

Die Bewohner des Lagers werden da allerdings kaum wählerisch sein, denn der Kampf ist auch einen Tag nach Beginn der Attacke nicht vorbei: Am Mittwochabend meldet die Deutsche Presse-Agentur (dpa), dass ein letzter Angreifer immer noch gegen afghanische Sicherheitskräfte kämpfe. Der Mann habe sich im dritten Stock eines Wohngebäudes für Soldaten und ihre Familien verschanzt und mehrere Frauen und Kinder als Geiseln genommen. Spezialkräfte seien im Einsatz.

Insgesamt werden bei dem Angriff laut dpa bis zum Abend 37 Menschen getötet und 35 verletzt - darunter auch Frauen und Kinder.

(RP)
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