Terror Iraks Schiiten-Milizen geraten außer Kontrolle

Abu · Sie wurden rekrutiert für den Kampf gegen den "Islamischen Staat". Jetzt drangsalieren die Freiwilligen immer wieder Zivilisten.

Wenn der Name Abu Ghraib fällt, geraten viele Iraker bis heute in eine Art Schockstarre. Die erschreckenden Fotos, die Gefängniswärter in amerikanischer Uniform und ihre Opfer zeigten und die 2004 an die Öffentlichkeit gelangten, haben sich tief in die Seelen der 33 Millionen Einwohner zwischen Euphrat und Tigris eingegraben. Ausgerechnet diejenigen, die 2003 als Befreier in ihr Land kamen, Demokratie und Menschenrechte propagierten, entpuppten sich als Folterknechte. Das Gefängnis von Abu Ghraib geriet zum untilgbaren Schandfleck der US-Invasion im Irak.

Von Saddam Hussein waren die Iraker Brutalitäten gegen Regimegegner gewohnt. Schon zu seiner Herrschaftszeit war die Haftanstalt vor den Toren Bagdads als Folterknast bekannt. Dass die Amerikaner aber zu den gleichen Methoden griffen wie der blutrünstige Diktator, hatte sich bis zur Veröffentlichung der Fotos im April 2004 niemand vorstellen können. Der Folterskandal von Abu Ghraib war ein Einschnitt: Von da an erhielt das Terrornetzwerk Al Qaida verstärkt Zulauf, verzahnte sich der irakische Widerstand mit dem internationalen Terrorismus. Gemeinsames Angriffsziel war die Besatzungsmacht, die es zu bekämpfen galt.

Von Bagdad aus sind es nur wenige Kilometer bis zu der Stadt, die dem berühmt-berüchtigten Gefängnis seinen Namen gibt. Es ist schon beinahe ein Vorort der irakischen Hauptstadt. Fast schon sind der westliche Bagdader Bezirk Amiirya und Abu Ghraib zusammengewachsen. Nur die Kontrollpunkte verraten, dass man Bagdad schon verlassen hat und in die Provinz Anbar fährt, die flächenmäßig größte der 18 Provinzen des Iraks. Genau hier spielt sich derzeit ein Drama ab, das die Zukunft des Landes, der Region und vielleicht der ganzen Welt prägen könnte.

Ein IS-Gebiet, größer als die Niederlande

Denn die Terrorgruppe IS ("Islamischer Staat") hat sich zum Ziel gesetzt, die gesamte Provinz möglichst bald unter Kontrolle zu bringen. Gelänge dies, stünde die Mördertruppe nur noch acht Kilometer vor Bagdad und hätte mit den an Anbar grenzenden Gebieten in Syrien tatsächlich einen eigenen Staat gebildet, der größer wäre als die Niederlande. Die Landkarte des Mittleren Ostens müsste neu gezeichnet werden. Schon ist es fast so weit: 80 Prozent der Provinz sollen bereits in den Händen des IS sein. Die Frontlinie verläuft zwischen Abu Ghraib und Falludscha, einem Namen, der an ein anderes blutiges Kapitel des Irak-Kriegs erinnert.

Um Jasser Mohsin zu besuchen, muss man in einen Feldweg von der Hauptstraße Zaitoun abbiegen. Auf einem Acker stehen mehrere Wohnwagen im Halbkreis. 1984 zog die Familie aus Bagdad hierher. "Seitdem haben sie nichts mehr für uns getan", entschuldigt sich Jasser für die bescheidene Wohnstätte. Sein Vater sei Kommunalbeamter gewesen, die Regierung habe ihn hierher geschickt. Damals sollte hier Agrarwirtschaft gefördert werden. Der insgesamt acht Jahre dauernde Krieg gegen den Iran war noch in vollem Gange, das Land sollte sich mehr und mehr selbst versorgen.

In Abu Ghraib wurden seither Datteln und Orangen angebaut, eine Geflügelfarm wurde eröffnet und eine Milchproduktionsanlage in Betrieb genommen. Das Wasser lieferte der Euphrat, von dem aus auch quer durch Abu Ghraib ein Kanal gezogen wurde. Zwei Monate nach der US-Invasion starb Jassers Vater, sein Schwager wurde kurz vor der Einnahme Bagdads am 9. April 2003 von US-Soldaten erschossen. Er hatte sich gegen die Besatzung gewehrt.

"Die bezeichnen uns doch als Ungläubige"

Vier Jahre später dann stürmten die Amerikaner die Behausung der Familie in Abu Ghraib. Sie glaubten, die Mohsins gehörten zu Al Qaida. In Anbar erlebten die Amerikaner den heftigsten Widerstand und die herbsten Verluste. Natürlich hätten die Leute von Al Qaida versucht, sie zum Mitmachen zu überreden, erzählt Jasser. Und das sei jetzt mit den Männern von Daesh, wie der IS auf Arabisch heißt, wieder ganz genauso. Doch Jasser und seine Familie sind Schiiten, wie etwa 20 Prozent der 50.000 Einwohner von Abu Ghraib. "Ein Schiit bei den sunnitischen Dschihadisten, das geht wohl nicht", sagt der 30-jährige Iraker und lächelt. "Die bezeichnen uns doch als Ungläubige."

Als Ende Juli letzten Jahres das Zentralgefängnis Bagdad, wie Abu Ghraib seit dem Abzug der US-Truppen aus Irak offiziell heißt, von muslimischen Extremisten gestürmt wurde, kamen 500 Häftlinge frei. Darunter waren auch Mitglieder von Al Qaida. "Einige haben sie wieder eingefangen", weiß Jasser, "die meisten sind aber noch auf freiem Fuß". Das irakische Innenministerium berichtete unmittelbar nach der Erstürmung, man habe Erkenntnisse darüber, dass die freigekommenen Al-Qaida-Mitglieder nach Syrien ausgereist seien.

Jasser meint aber, dass viele von ihnen in der Provinz geblieben sind und jetzt zu den Unterstützern des IS zählen. Als dann fast ein Jahr später, im Juni dieses Jahres, die Blitzoffensive der damals noch ISIS (Islamischer Staat im Irak und Syrien) genannten Terrormiliz ganze Regionen des Iraks überrollte, kamen viele der ehemaligen Häftlinge aus Syrien zurück. Und wieder versuchten die islamistischen Gotteskrieger, das Gefängnis zu stürmen. Doch dieses Mal hatte die Regierung in Bagdad Vorsorge getroffen und die Gefangenen rechtzeitig in den Süden verlegt. Als die IS-Kämpfer anrückten, war die Haftanstalt leer.

Vermummte Schergen verbreiten Angst und Schrecken

Jassers zehn Monate alte Tochter Mina rutscht vom Schoß ihrer Großmutter, setzt sich mitten im Wohnzimmer auf den Fußboden und fängt scheinbar grundlos an zu weinen. Verstört schaut sie die ausländische Besucherin an. "Die Kleine hat Angst", erklärt die Großmutter Nahida. "Es wird hier so viel geschossen, so viel geschrien, und so viele fremde Leute sind in der Stadt." "Nein", fügt Jasser gleich hinzu. "Keine IS-Kämpfer. Es sind die Schiiten-Milizen, die vorgeben, uns vor denen zu beschützen."

Die Milizionäre seien überall präsent. Plötzlich fingen sie an zu schießen, oft ohne Grund, pöbelten Leute in den Geschäften an, entführten Menschen und forderten Lösegeld. Neulich seien einige von ihnen in einen Handy-Shop eingedrungen, hätten alle Telefone konfisziert, den Ladenbesitzer verschleppt und 600.000 US-Dollar Lösegeld verlangt. "Die Schiitenmilizen sind das wahre Problem für uns", sagt der Schiit Mohsin, "nicht Daesh". Man wisse oft gar nicht, auf wessen Befehle die bewaffneten Männer hörten, die hier ihr Unwesen trieben.

Seitdem der schiitische Groß-Ajatollah Ali al Sistani in Nadjaf dazu aufgerufen hat, das Land gegen die IS-Milizen zu verteidigen, weil unzählige Soldaten der irakischen Armee desertiert waren, sind Tausende Freiwillige vor allem aus den schiitischen Städten im Südirak nach Bagdad gekommen, um sich für den Kampf gegen den IS zu melden. Zehntausende dieser Männer tragen zwar irakische Militäruniformen, aber viele von ihnen sind mit Skimasken vermummt und operieren außerhalb des Gesetzes und ohne jegliche Kontrolle. Laut Amnesty International entführten und töteten schiitische Milizen mit schweigender Billigung der Regierung etliche sunnitische Zivilisten, und zwar als Rache für die Angriffe der sunnitischen IS-Kämpfer. Abu Ghraib, die letzte Stadt der Provinz Anbar vor Bagdad, erlangt dadurch abermals traurige Berühmtheit.

(RP)
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