Caracas Alarmstufe Rot in Venezuela

Caracas · Nach der Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung sind die Fronten verhärtet wie nie. Ein langer Bürgerkrieg ist nun genauso denkbar wie ein überraschendes Ende von Präsident Nicolás Maduro.

Sie sind alle wieder vereint: Ex-Außenministerin Delcy Rodríguez, Ex-Parlamentspräsident Diosdado Cabello und natürlich auch die First Lady Cilia Flores. Wenn Venezuelas neue Volksvertretung in Kürze zusammentritt, dann sitzt die sozialistische Prominenz in der ersten Reihe, obwohl eigentlich Indigene, Bauern und Arbeiter im Mittelpunkt der Versammlung stehen sollten. Seit einem blutigen Wahlsonntag ist die verfassungsgebende Versammlung in Venezuela Realität. Und mit ihr ein ganz neues politisches Szenario.

Damit gibt es nun ein zweites Parlament in dem tief zerstrittenen Land: Einerseits ist da die Volksvertretung, die Nationalversammlung, bei deren letzter Wahl im Dezember 2015 die Mehrheit der 14,5 Millionen Venezolaner der bürgerlich-konservativen Mehrheit den Auftrag erteilte, das Land zu regieren - und den in eigenständigen Wahlen ermittelten Präsidenten zu kontrollieren. Doch Nicolás Maduro dachte nicht daran, das Wählervotum und die Niederlage zu akzeptieren. Er regiert seitdem mit Sonderdekreten und Ausnahmezustand. Und andererseits gibt es nun noch die verfassungsgebende Versammlung, die von offiziell gerade einmal 8,1 Millionen Menschen gewählt wurde. Selbst an dieser offiziellen Zahl, die gerade mal 41,5 Prozent der Wahlberechtigten ausmacht, gibt es erhebliche Zweifel. "Ein Wunder. Wie Jesus einst das Brot vermehrte, vermehrten sich am Sonntag die Stimmen", spottete Oppositionspolitiker Ramus Allup angesichts der vielen Bilder von verwaisten Wahllokalen.

Die Opposition zählte nur 2,4 Millionen Menschen, die ihre Stimme abgegeben haben. Wieder einmal klaffen riesige Lücken zwischen zwei Wahrheiten. Wieder einmal scheint der Graben unüberbrückbar. Die Macht bleibt - wie stets in den vergangenen fast Jahrzehnten - in der Hand der Sozialisten, mag das Wahlvolk auch anders abstimmen oder den Urnen fernbleiben.

Die politische Realität ist für die Opposition bitter: "Wir haben eine verfassungsgebende Versammlung", jubelte Präsident Maduro. Künftig haben trotz der Proteste im In- und Ausland, von Menschenrechtsorganisationen und der katholischen Kirche 545 überwiegend regierungsnahe Mitglieder der verfassungsgebenden Versammlung das Recht, Institutionen aufzulösen und die Machtarchitektur im Sinne Maduros neu zu ordnen.

Zuvor war es in Venezuela wieder einmal zu Jagdszenen gekommen. Wie viele Menschen im Zuge von Protesten und Übergriffen ums Leben gekommen sind, ist unklar. Die Nichtregierungsorganisation Foro Penal spricht von mindestens 13, die regierungskritische Tageszeitung "El Nacional" zählte 16 Tote innerhalb von 24 Stunden. Angesichts der alltäglichen Gewalt im unter Maduro zum gefährlichsten Land Südamerikas entwickelten Land ist das fast schon Routine. Seit Anfang April gab es mehr als 120 Tote, unter den Opfern vom Wochenende sind Funktionsträger beider politischer Lager.

Das Ausland reagiert kühl. Kuba, Nicaragua und Bolivien, treue Verbündete Venezuelas, erkannten das Ergebnis an. Die USA, Kolumbien, Mexiko, Brasilien, Peru und Panama verweigerten dagegen der Abstimmung die Anerkennung. Die US-Regierung hat bereits Sanktionen verhängt: Mögliche Vermögen von Maduro in den USA würden eingefroren und US-Bürgern alle Geschäfte mit ihm verboten, teilte das Finanzministerium mit. Die Chancen, dass Maduro seinen publikumswirksamen kalten Krieg gegen den "Imperator" Donald Trump bekommt, stehen also sehr gut.

Dramatisch ist auch die Situation im Nachbarland Kolumbien. Seit Tagen strömen Zehntausende venezolanische Flüchtlinge über die Grenze und suchen Schutz und vor allem Lebensmittel. Denn die Lage für die Menschen in Venezuela verschlechtert sich zunehmend: Das ölreichste Land der Welt leidet unter einer schweren Wirtschaftskrise. Es verfügt kaum noch über Devisen, um Lebensmittel, Medikamente und Dinge des täglichen Bedarfs zu importieren. Die Inflation gilt als die höchste der Welt.

Aufhalten kann Kolumbien die Flüchtlingswelle nicht, dafür ist die Grenze zu lang und zu unübersichtlich. Die Entwicklung ist brandgefährlich: Kolumbien steckt mitten in einem fragilen Friedensprozess. Vor allem die rechtskonservative Opposition um Ex-Präsident Alvaro Uribe will am liebsten in Venezuela eingreifen. Und die linksgerichtete Guerilla-Organisation Farc, die gerade erst ihre Waffen abgegeben hat, sympathisiert offen mit Maduros Regierung. Ein Nebenkriegsschauplatz mit viel Zündstoff.

Derweil macht Maduro der Opposition mal wieder ein Gesprächsangebot. Das zeigt, wie er die neue Machtarchitektur deutet: Nicht die von der Opposition dominierte Volksvertretung ist der Platz für Debatten, sondern die von den Sozialisten beherrschte verfassungsgebende Versammlung. Gewünscht sind nur noch Gesprächspartner, die die neuen Bedingungen akzeptieren.

(RP)
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