Berlin All-Parteien-Koalition gegen Wahlrechtsreform

Berlin · Dem Bundestag fehlt die Kraft, seine Aufblähung zu stoppen. Die Fraktionen üben sich vorsorglich in Schuldzuweisungen.

Freunde des klassischen Altertums können beim aktuellen Wirken von Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) an Cato den Älteren denken. So wie jener römische Staatsmann bei jeder Senatssitzung zur Zerstörung Karthagos aufrief ("Ceterum censeo..."), mahnt der Parlamentschef die Fraktionen wieder und wieder dazu, das Wahlrecht zu ändern, um einen aufgeblähten Bundestag zu stoppen.

Die Problematik liegt in der neuen Mandatsberechnung. Danach werden für jedes Überhangmandat so lange Ausgleichsmandate verteilt, bis das Zweitstimmenverhältnis wieder stimmt. Was kompliziert klingt, ist im Prinzip einfach: In jedem der 299 Wahlkreise gibt es über die Erststimme einen direkt gewählten Abgeordneten. Im Idealfall kommen 299 weitere Abgeordnete von den Landeslisten hinzu, so dass unterm Strich der Bundestag aus 598 Abgeordneten besteht, die insgesamt exakt dem Zweitstimmenergebnis entsprechen.

Je weniger Stimmen allerdings erforderlich sind, um ein Direktmandat zu bekommen, desto schwieriger wird der Ausgleich. Wenn nun aktuell etwa 32 Prozent bei Union oder SPD ausreichen, wächst die Gefahr, dass die Volksparteien in einem Bundesland mehr Direktmandate bekommen, als ihnen nach ihrem Anteil an den Zweitstimmen dort zustehen. Dann bekommen Grüne, Linke, FDP und AfD, aber auch die andere Volkspartei Ausgleichsmandate, die obendrein durch alle Bundesländer und Wahlbeteiligungen gewichtet werden. Schon bei den Umfragen im Herbst war ein Anwachsen des Bundestages von 631 auf 700 möglich, jetzt sind fast 800 nicht mehr ausgeschlossen.

So ruft denn Unionsgeschäftsführer Michael Grosse-Brömer SPD und Opposition auf, sich endlich zu bewegen. Die Vorschläge von Lammert seien verfassungsfest, wenn im Grundgesetz die Mitgliederzahl auf 630 gedeckelt werde oder die ersten 15 Überhangmandate nicht mehr ausgeglichen würden. Aus Sicht von SPD und Opposition begünstigte das eindeutig die Union. "Bei einer Deckelung würde das maßgebliche Zweitstimmenverhältnis nicht mehr 1:1 abgebildet", erläutert Britta Haßelmann von den Grünen.

Für ihre SPD-Kollegin Christine Lambrecht ist die Zahl 630 willkürlich gewählt und offensichtlich verfassungswidrig. Lambrecht plädiert dafür, die Reform gleich zu Beginn der nächsten Wahlperiode anzupacken, schließlich sei der Lammert-Vorschlag ja erst relativ spät gemacht worden. Tatsächlich liegt er nun fast ein Jahr auf dem Tisch, und Lammerts erster dringlicher Hinweis datiert vom 22. Oktober 2013, dem Tag der Konstituierung dieses Bundestages.

Möglicherweise fehlt den Fraktionen inzwischen auch deshalb die Kraft, weil nicht nur Grüne und Linke um ihre Überhangmandate fürchten, sondern auch einzelne Landesverbände von Union und SPD. Wenn nach Berechnungen hundert Sitze an AfD und FDP gehen, fallen diese vor allem bei Union und SPD weg - es sei denn, der Bundestag wird größer. Nach dem alten Motto "Zustimmen, wenn Ablehnung gesichert", sprach sich die Union nun wieder für den Lammert-Vorschlag aus. Wiewohl (falsche) Gerüchte über neue letzte Anläufe durchs Parlamentsviertel geistern, rechnet niemand mehr damit, dass es klappt. Zudem wächst, so Haßelmann, "mit jedem Tag das Risiko einer Anfechtung". Dann doch lieber wachsen.

(RP)
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