Warschau Als Polen sich selbst den Krieg erklärte

Warschau · Am 35. Jahrestag der Verhängung des Kriegsrechts sehen viele das Land wieder am Abgrund.

Es ist Punkt sechs Uhr an diesem kalten Morgen, als General und KP-Chef Wojciech Jaruzelski am 13. Dezember 1981 eine historische Radioansprache mit den Worten beginnt: "Unsere Heimat befindet sich am Rande des Abgrunds. Der Staatsrat hat deshalb heute um Mitternacht über Polen den Kriegszustand verhängt." Nach anderthalb Jahren wachsender Proteste der Gewerkschafts- und Freiheitsbewegung Solidarnosc zieht die kommunistische Führung die Notbremse. Sie erklärt den eigenen Bürgern den Krieg, um ihre Macht zu retten und eine sowjetische Intervention zu verhindern.

Es folgen eine Eiszeit, zaghafte Reformen und die friedliche Revolution von 1989. 2004 tritt das demokratische Polen der EU bei.

Doch es gibt Kräfte, die heute in Polen Parallelen sehen zur Situation vor 35 Jahren. Mateusz Kijowski, Vorsitzender des außerparlamentarischen Oppositionsbündnisses KOD: "Damals wie heute gibt es ein Organ, eine alleinregierende Partei, die nicht in die staatlichen Strukturen eingebunden ist und dennoch Entscheidungen trifft, die unsere Bürgerrechte einschränken." Gemeint ist die rechtsnationale, erzkonservative PiS des übermächtigen Parteichefs Jaroslaw Kaczynski, der die Richtlinien der Kabinettspolitik aus dem Hintergrund heraus bestimmt.

So gesehen stellte sich gestern, am 35. Jahrestag der Verhängung des Kriegsrechts, tatsächlich die Frage: Bewegt sich Polen wieder am Rande des Abgrunds? Kijowski und seine Mitstreiter sehen es so. Sie demonstrieren seit der Regierungsübernahme der PiS vor gut einem Jahr regelmäßig gegen die "Demontage der Demokratie und des Rechtsstaats". Gestern versammelten sich erneut mehrere Tausend Menschen allein in Warschau. Kijowski erklärte: "Wir wollen eine Brücke schlagen zwischen damals und heute", also zwischen der linken Diktatur des Jahres 1981 und der rechten Alleinregierung des Jahres 2016.

Aber ist das angemessen und statthaft? PiS-Politiker sind empört, allen voran Parteichef Kaczynski persönlich: "Das ist absurd. Dieses Verhalten ist irgendwo zwischen Krankheit und Burleske angesiedelt", urteilte er und warf den KOD-Anführern vor, zum "Aufstand gegen den Staat aufzurufen". Genau genommen sei dieses Vorgehen nichts anderes als eine Straftat.

In den Ohren der Demonstranten klangen die Einlassungen Kaczynskis wie offene Drohungen. Der PiS-Chef ließ es sich zu allem Überfluss nicht nehmen, im Radio zu den Menschen zu sprechen wie einst Jaruzelski und dabei ironisch zu versichern, er habe nicht die Absicht, das Kriegsrecht zu verhängen. Vollkommen ernsthaft kündigte er jedoch an, die "Aktionen der Opposition" per Gesetz zu "befrieden". Oppositionsführer Grzegorz Schetyna entgegnete: "Solche Ausführungen ausgerechnet am 13. Dezember sind eine einzige Schande."

(RP)
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