Charleston Amerika und der Rassenhass

Charleston · Nach dem rassistisch motivierten Attentat von Charleston beginnt eine offene Diskussion über die schwierige Südstaatengeschichte.

Die Sonne brennt gnadenlos. Sanitäter stehen mit Tragen bereit, falls jemand in der Hitze umkippt. Eine Kirchengruppe verteilt Wasserflaschen. Am Eingang des Parlaments kontrollieren Polizisten jede Tasche auf Waffen, es dauert eine Ewigkeit, bis man drin ist.

Das hindert Al Steel nicht daran, sich bei 37 Grad im Schatten in die Schlange der Wartenden einzureihen, die sich rund ums Bundesstaatenparlament von South Carolina schlängelt. "Al Steel, Redneck", so stellt er sich vor. Wörtlich sind mit Rednecks die roten Nacken von Arbeitern gemeint, die sich auf Feldern oder Baustellen einen Sonnenbrand holen. Als Metapher steht das Wort für weiße, eher konservative, bisweilen sture Malocher, insbesondere für solche aus den Südstaaten. Steel ist Angestellter einer Firma, die mit Baumaterial handelt. Am Morgen ist er fast zwei Stunden nach Columbia gefahren, um ein Zeichen zu setzen. "Es reicht. Runter mit dieser Flagge", sagt Steel. "Es kann ja nicht angehen, dass wir 40 Prozent der Menschen, die in unserem Staat leben, permanent vor den Kopf stoßen."

Auch an diesem Tag weht sie vor dem State House in Columbia, die Konföderiertenflagge, mit der die Südstaatenarmeen einst in die Schlachten gegen die Yankees zogen, für Afroamerikaner ein Symbol des Rassenhasses. An einem zehn Meter hohen Mast hängt sie neben einem Bürgerkriegsdenkmal, und dass sie nicht mal an so einem Tag der Trauer eingerollt wurde, kann Albert Jelks beim besten Willen nicht verstehen. Drinnen ist ein Sarg aufgebahrt. Tausende defilieren an ihm vorbei, um Clementa Carlos Pinckney die letzte Ehre zu erweisen, einem Pfarrer und Senator, der mit 18 zum Priester geweiht wurde und mit 23 der jüngste Afroamerikaner war, der je in der Abgeordnetenkammer South Carolinas saß. Barack Obama, der die Trauerrede hielt, kannte ihn gut. Ermordet wurde Pinckney von einem jungen Rassisten, der sich nicht zuletzt auf die Konföderiertenflagge berief. Und dennoch weht sie draußen auf dem Vorplatz, als wäre nichts geschehen. "Der gute alte Süden, die Good Old Boys mit ihren Seilschaften", kommentiert Jelks sarkastisch.

Nur dass vor der Kriegerstatue eine Kunstgaleristin namens Renee Laverty mit einem Spruchband steht - "A New Day, A New Way". Amerika sei ja das Land des Neustarts, zumindest dem Mythos nach, sagt Laverty. Was immer es gestern an Kontroversen gab, so ein Neustart sei genau das, was der Süden heute brauche. "Warum blättern wir die Seite nicht einfach um?"

Jelks ist im dunkelroten T-Shirt seines Veteranenvereins gekommen. Vor 40 Jahren musste er nach Vietnam, woran ihn die Granatsplitter im linken Bein erinnern. Der Mittsiebziger stammt aus Birmingham, der Stadt in Alabama, in der 1963 in einer Kirche ein Sprengsatz des Ku-Klux-Klan detonierte und vier schwarze Mädchen tötete. Der Schock saß so tief, dass 1964 die Bürgerrechtsparagrafen des "Civil Rights Act" folgten. "Offenbar muss immer erst etwas Schlimmes passieren, bevor sich was ändert. Der Schock des Massakers von Charleston Anfang der Woche werde South Carolina umkrempeln.

Stephen Benjamin, Bürgermeister der Stadt Columbia, spricht von einer moralischen Zäsur, die stärker nachwirke als jedes politische Manöver. Zu denen, die in der Rotunde des Parlaments an Pinckneys Sarg wachen, gehört Norman Brannon. Pinckney war schwarz und Demokrat, Brannon ist weiß und Republikaner. Demnächst will er ein Gesetz einbringen, das die Kriegsfahne des Südens ins Museum verbannt. "Ich tue das für meinen Freund, der nur deshalb tot ist, weil er dunkle Haut hatte." Pinckney war 41, Brannon ist 54. Vielleicht ist alles nur eine Generationenfrage. Vielleicht, orakelt auch Abert Jelks, werden die Jüngeren einfach nicht mehr zuhören, wenn die Alten ihre Geschichten vom Erbe des Südens erzählen.

Ein Wendepunkt? Der neue Süden? Jesse Glasscho, ein kleiner Bauunternehmer, der an der gleichen Schule lernte wie Pinckney, bleibt skeptisch. Nicht nur, dass er aus täglicher Erfahrung weiß, wie Schwarze auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt werden. Obwohl Bewerbungen in den USA keine Porträtfotos beigefügt sind, werde man oft gleich ausgesiebt, wenn man einen typisch afroamerikanischen Vornamen habe, Tywanda oder Shaniqua zum Beispiel. Glasschos siebenjähriger Sohn Jacoby musste sich neulich von einem hellhäutigen Klassenkameraden anhören, seine Mutter wolle nicht, dass er sich neben einen schwarzen Jungen setze.

Damon Fordham, ein afroamerikanischer Historiker aus Charleston, zitiert Theodore Roosevelt, einen der Großen in der Chronik amerikanischer Präsidenten: Man möge seine Augen auf die Sterne richten, aber mit den Füßen auf dem Boden bleiben. Fordham blickt auf ein Meer von Blumengebinden, dahinter die weißgetünchten Mauern der Emanuel-Kirche. Die Menschen umarmen sich, fassen sich an den Händen, zitieren Bibelverse. "Halleluja!" Ein Geistlicher aus der New Yorker Bronx spricht von Versöhnung und Vergebung, und als er das Mikrofon aus der Hand legt, skandiert ein vielstimmiger Chor: "We are one" ("Wir sind eins").

Zur ersten Bibelstunde nach dem Blutbad versammelten sich 150 Gläubige im Kirchenkeller, zehnmal so viele wie an dem Abend, als Dylann Roof um sich schoss. Auf einer Wiese in der Nähe singen sie "Imagine", das Lied von John Lennon. Roof, so hat er es den Ermittlern erzählt, wollte einen "Rassenkrieg" auslösen. Es ist, als wolle ihm Charleston Abend für Abend beweisen, dass er gescheitert ist.

(RP)
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