Analyse Volk gegen Armee

Ankara · Das türkische Militär gilt traditionell als Hüter einer weltlichen Republik im Sinne ihres Gründers Atatürk. Mit der Bevölkerung waren die Generäle dabei lange einer Meinung. Diese Allianz ist nach dem Putschversuch am Ende.

Die türkische Armee versteht sich seit Gründung der Türkei als Wächter des Erbes Mustafa Kemal Atatürks, des Vaters der modernen türkischen Nation. Sie folgt dabei seiner Lehre einer laizistischen Staatsordnung, in der Religion und Staat getrennt sind. Für die Bevölkerung stand dabei traditionell die Integrität der Armee außer Zweifel. Auch dass das Militär bis 1950 bereits dreimal geputscht hatte, änderte lange nichts an dieser Haltung. Schließlich war die Geschichte der Republik selten von dem gesegnet, was wir gutes Regieren nennen. Die Bevölkerung vertraute darauf, dass Armee und Generalstab im Falle eines politischen Versagens bereitstehen und die Einheit und Unteilbarkeit des Landes, aber auch die verfassungsrechtliche Trennung von Staat und Religion garantieren.

Als sich 1960 die Regierung von Adnan Menderes, dem ersten frei gewählten Ministerpräsidenten der Türkei, vom Kemalismus abwandte und die Rückbesinnung auf den Islam propagierte, putschte das Militär. Zwar wurde Menderes 1961 gehängt, aber die Armee bescherte dem Land im Anschluss an den Umsturz die wohl freiheitlichste Verfassung seiner Geschichte - Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit standen dabei im Vordergrund.

Auch die derzeit gültige Verfassung von 1982 geht auf einen Putsch des Militärs zurück. 1980 lag das Augenmerk der Offiziere auf der Integrität des Staates - und der Zerschlagung linker Gruppierungen. Um die Linken zurückzudrängen, legten die Generäle die Grundlagen für den politischen Islam. So wurde Religion Pflichtfach an Schulen. Die Imam-Hatip-Schulen, Berufsfachgymnasien für die Ausbildung von Imamen und Predigern, erhielten großzügige Förderungen; islamische Jugendbewegungen wurden unterstützt. Erdogan war nicht nur Mitglied einer solchen Jugendbewegung, er erhielt auch seine Ausbildung an einer Imam-Hatip-Schule in Istanbul. Nach dem Putsch 1980 wurde auch der Nationale Sicherheitsrat als politisch-militärisches Gremium eingerichtet. Über diesen Rat wollte das Militär seinen Einfluss auf das Land sichern.

Ob die Generäle wirklich den politischen Islam so weit stärken wollten, wie es heute der Fall ist, darf man allerdings bezweifeln. Zum einen entsprach dieser Kurs nicht dem kemalistisch-laizistischen Weg, zum anderen putschte das Militär auch 1997, und zwar gegen die Regierung der islamistischen Wohlfahrtspartei unter Ministerpräsident Necmettin Erbakan. Dieser letzte erfolgreiche Putsch nahm seinen Ausgang im Nationalen Sicherheitsrat und vollzog sich ohne Ausnahmezustand, Auflösung der Nationalversammlung oder Aussetzung der Verfassung. Der Generalstab verfasste ein Memorandum mit einem Bündel von Maßnahmen gegen die islamistische Bewegung. Druck des Militärs und der Öffentlichkeit führte vier Monate später zum freiwilligen Rückzug der Regierung - das Militär hatte sein Ziel erreicht.

Im Volk galt der Coup von 1997 als weiteres Beispiel der Wächterrolle der Armee. Und 1997 hat gezeigt, dass die Armee ihren Auftrag auch ohne militärische Mittel erfüllen kann - nicht zufällig sagte der ehemalige Brigadegeneral Haldun Solmaztürk 2009, die Zeiten von Putschen seien vorbei.

Wie aber ist dann der aktuelle Putschversuch mit dem Selbstverständnis der Armee in Einklang zu bringen? Er ging zunächst nur von einzelnen Teilen der Luftwaffe, Panzerverbänden und der Militärpolizei aus. Dass der Putschversuch recht halbherzig wirkte und von wenigen Offizieren initiiert wurde, entspricht der aktuellen Lage und dem Selbstverständnis des Militärs unter Erdogan. Die Armee sieht sich durch seine Politik spätestens seit dem Erdrutschsieg von Erdogans islamisch-konservativer AKP bei der Parlamentswahl 2007 in der Schusslinie. Im gleichen Jahr begannen die Ermittlungen im Fall Ergenekon, in dem Rechtsanwälten, Unternehmern, Politikern, Journalisten, aber auch Militärs eine Verschwörung in einer nationalistischen Untergrundorganisation gegen den Staat vorgeworfen wurde. Nachdem mehr als 250 Offiziere in Haft gekommen waren, trat 2011 die komplette Armeeführung aus Protest zurück. Das gab dem damaligen Ministerpräsidenten Erdogan die Möglichkeit, den Generalstab mit ihm wohlgesinnten Offizieren zu besetzen. Das wiederholte er 2013, indem er zwei Tage vor der Urteilsverkündung im Fall Ergenekon die gesamte Armeeführung abermals ersetzen ließ. Dass Erdogan jetzt die harte Bestrafung der Verschwörer angekündigt hat, überrascht nicht. Nun bietet sich die Möglichkeit, die Armee auch in der zweiten und dritten Führungsebene gleichzuschalten.

Das Verhältnis zwischen Armee und Bevölkerung wird der Putschversuch nachhaltig schädigen. Zwar hat sich zum Beispiel die Türkische Gemeinde in Deutschland erfreut über die "demokratische Reife" des türkischen Volkes gezeigt. Doch man darf bezweifeln, dass jene Erdogan-Anhänger, die in der Nacht zu Samstag mit den Worten "Gott ist groß" auf die Straße gingen, im klassisch kemalistischen Sinn ihrer Demokratie zu Hilfe kommen wollten.

Der Putschversuch wird nicht nur die Macht der Regierungspartei AKP festigen, er wird auch den Einfluss der Hizmet-Bewegung des Predigers Fethullah Gülen mindern. Die Hizmet-Bewegung kann mit ihrer Lehre von pazifistischen und modernen islamischen Ideen als Gegenspieler zum Salafismus betrachtet werden. Erdogan und die AKP betrachten Hizmet dagegen als Terrororganisation; ein gültiges Gerichtsurteil dazu liegt bis heute nicht vor. Der Putsch wird schließlich auch in der ökonomisch gebeutelten Türkei die Machtverhältnisse weiter zugunsten der Wirtschaftseliten und Kader der AKP verschieben. Damit ebnet er dem politisch motivierten Islam den Weg.

(RP)
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