Wuppertal Merkel debattiert mit CDU-Basis in Wuppertal

Wuppertal · Die Kanzlerin will weitere Bevölkerungsteile für ihre Partei gewinnen, die Christdemokraten wollen ihre Programmatik modernisieren.

Geplant war alles ganz anders. Eigentlich sollte es gestern Abend in der Wuppertaler Stadthalle ja nur um die erste von vier "Zukunftskonferenzen" gehen, mit der die Bundes-CDU ihren Parteitag im Dezember vorbereitet: kleine Programmreform, Modernisierung der Parteistruktur und was man als Funktionär eben sonst noch so auf die Tagesordnung setzt, damit die Basis sich "mitgenommen" fühlt. Aber dann kam die Zuspitzung der Flüchtlingskrise dazwischen und mit ihr die erstaunliche Kehrtwende der Kanzlerin: Ausgerechnet die sonst oft Zögernde ging in die Offensive, breitete den Flüchtlingen der Welt ihre Arme aus - und gab damit ihre Unantastbarkeit preis.

Während der eine Teil ihrer Partei sie deshalb als Kandidatin für den Friedensnobelpreis handelt, wird die Kritik im anderen Teil immer lauter: Eine Fortsetzung des "ungebremsten Zuzugs" gefährde den inneren Frieden, schrieben ihr im Vorfeld der Konferenz 34 CDU-Funktionäre aus ganz Deutschland.

CSU-Chef Horst Seehofer will in einer Sondersitzung des Kabinetts nun zudem "Notwehr-Maßnahmen" beschließen. Dabei geht es um Integration, Bildung und Ausbildung", sagte der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer der "Bild"-Zeitung. Hinzukommen ausdrücklich auch Maßnahmen der Notwehr zur Begrenzung der Zuwanderung, wie etwa Zurückweisungen an der Grenze zu Österreich und unmittelbare Weiterleitung neu eintreffender Asylbewerber innerhalb Deutschlands", sagte der CSU-Politiker

Die Kanzlerin ist in der Defensive, und in Wuppertal traf sie erstmals seit Ausbruch der Kontroverse um ihre Person auf die Basis. Jedes der 800 CDU-Mitglieder, die ihr gegenübersaßen, hatte eine Meinung zu ihrer Flüchtlingspolitik, und viele sagten sie auch. Aber zuerst sprach Merkel.

Am Vorabend hatte sie bereits in der Talkshow von Anne Will Stellung bezogen. Auch die Reaktionen auf diesen Fernsehauftritt waren geteilt. "Wir schaffen das, da bin ich ganz fest von überzeugt", wiederholte Merkel auch bei Will ihr Mantra und lehnte weiterhin einen Aufnahmestopp für Flüchtlinge ab. Gleichwohl sagte sie auch, dass Flüchtlinge schneller in ihre Heimat zurückgeschickt werden müssen, wenn der deutsche Rechtsweg ihnen das Bleiberecht abgesprochen hat.

SPD-Chef Sigmar Gabriel und CDU-Granden wie Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier lobten Merkels Auftritt bei Will. Andere, wie Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haselhoff (CDU), widersprachen nach der Sendung: "Unsere Belastungsgrenze ist definitiv erreicht", so Haselhoff gestern.

So viel ist klar: Die Bundesregierung wird weiterhin auf eine Obergrenze für Flüchtlinge in Deutschland verzichten. Vielmehr setzt sie alles daran, sich auf den seit Sommer andauernden Zustrom dauerhaft einzustellen.

Für eine effizientere Registrierung der Flüchtlinge und eine schnellere Bearbeitung der Asylanträge wurde dafür der erfahrene Verwaltungsmanager und Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, an die Spitze des Bundesamts für Migration gesetzt. Noch wächst aber die Zahl der unbearbeiteten Asylanträge weiter. CDU-Landeschef Armin Laschet war im Angesicht der Kanzlerin gestern Abend nur Randfigur. Trotzdem war spannend zu sehen, wie die NRW-Basis in Wuppertal auf ihn reagierte. Denn Laschet musste auf der Zukunftskonferenz einen zentralen CDU-Antrag für den Dezember-Parteitag vorstellen: "Zusammenhalt stärken - Zukunft der Bürgergesellschaft gestalten" hieß die Kommission, die den Antrag unter Laschets Regie erarbeitet hat.

Eigentlich ein unverfängliches Allerweltsthema. Aber vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise wird der Routineauftrag für Laschet plötzlich brisant: Denn natürlich geht es auch dabei irgendwie um Flüchtlinge, und deshalb muss jetzt auch Laschet Antworten auf die Krise liefern. "Bildung fördern, Sprache fördern. Und die Menschen für unsere Werteordnung und das Grundgesetz begeistern", soll eine davon sein. Die bestehenden Gesetze zum Thema Einwanderung will Laschet "in einem klareren und transparenteren Gesetz zusammenfassen".

Neben Laschet stellten auch die stellvertretenden Parteivorsitzenden Julia Klöckner und Thomas Strobl sowie Generalsekretär Peter Tauber unter ihrer Regie erarbeitete Anträge für den Parteitag vor. Tauber hält Grenzkontrollen für einen wichtigen und zulässigen Schritt, um den Zustrom zu verlangsamen: "Wir wollen den europäischen Freunden das Signal geben, dass bei diesem Thema ganz Europa gefordert ist", sagte er.

Damit könnte Tauber die Brücke zwischen den Flüchtlings-Skeptikern und dem Merkel-Flügel sein: Das Zauberwort zu einer Drosselung des Flüchtlingsandrangs heißt auch in der Bundesregierung "europäische Lösung". Doch bislang zeichnet es sich nicht ab, dass sich andere europäische Länder solidarisch zeigen und sich auf ein Quotensystem zur Verteilung der Flüchtlinge einlassen.

Die Regierung setzt zudem darauf, eine Übereinkunft mit der Türkei zu erzielen, dass dort noch deutlich mehr Flüchtlinge bleiben. Zudem sollen Aufnahme- und Verteilzentren als "Hotspots" an den europäischen Außengrenzen eingerichtet werden. Ein deutscher Aufnahmestopp oder die Errichtung von Grenzzäunen gehören dabei nicht zu den Optionen der Bundesregierung. Klöckner dringt auf mehr Nachhaltigkeit: Was andernorts schade, könne auch in Deutschland kein gutes Leben bedeuten. Ihre Kommission schlägt deshalb ein Gütesiegel für nachhaltig produzierte Textilien und Tierschutz vor. Strobl will, dass der Mensch in der durchdigitalisierten Zukunft nicht zu kurz kommt. Trotzdem sei das schnelle Internet ein zunehmend zentraler Standortfaktor.

(RP)
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