Analyse Armee mit Defiziten

Berlin · Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen erstellt ein neues Konzept für die deutsche Sicherheitspolitik und Zukunft der Bundeswehr. Sie will dabei keine Tabus, aber stößt an eine Grenze nach der anderen.

Weißbücher deutscher Bundesregierungen haben über Jahrzehnte die neuen sicherheitspolitischen Chancen einer Ost-West-Annäherung beschrieben. Fast im Jahrestakt zeichneten die Strategiekonzepte der deutschen Sicherheitspolitik die in Millimetern gemessenen Fortschritte in den 70er Jahren nach. Als dann die großen Umwälzungen ungeahnte Kooperationen möglich machten, kamen die Weißbuchschreiber kaum mehr nach.

Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) hat gestern den Startschuss für ein neues Weißbuch "zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr" gegeben. Es wird eine zehnjährige Lücke schließen, aber angesichts der aktuellen und künftigen Bedrohungslage aller Voraussicht nach ein Weißbuch für Schwarzseher werden müssen.

2006 erschien das bisher letzte Weißbuch. Und es drehte sich vor allem um die neu entdeckten Möglichkeiten einer "vernetzten Sicherheit": In Afghanistan war jeden Tag zu erleben, dass das Militärische allein an enge Grenzen stößt. Und dass die Befriedung eines Landes nur gelingen kann, wenn die Politik, die Entwicklungszusammenarbeit, die Diplomatie ineinandergreifen und die Streitkräfte sich darauf beschränken, ein sicheres Umfeld dafür zu schaffen, dass die anderen Komponenten wirken können.

Das Bild war deshalb geprägt von der Erwartung, dass die Bedeutung von schweren Waffen, von Artillerie und Panzern, immer weiter zurückgehen würde. Das bestätigte den deutschen Kurs, die einstmals riesige Panzertruppe als wirkmächtige Abschreckung gegenüber Aggressionsgelüsten des Warschauer Pakts auf eher symbolische Restbestände zusammenzudampfen.

Ein Jahrzehnt später setzt Moskau genau darauf: Schwere Waffen, Artillerie und Panzer spielen die entscheidende Rolle im Ukraine-Konflikt, rollen in Manövern über die annektierte Krim und unterstreichen Muskelspiele mit klaren Drohungen. Wenn Sicherheitspolitiker daran denken, was Deutschland dem heute entgegenzusetzen hat, werden sie bleich. Es ist daher kein Zufall, dass im Umfeld des neuen, auf anderthalb Jahre angelegten Entstehungsprozesses des neuen Weißbuches die Rückbesinnung auf die Landes- und Bündnisverteidigung immer mehr Anhänger findet.

Im Gegenzug dringt von der Leyen darauf, Denkverbote oder traditionelle Entscheidungsmechanismen über Bord zu werfen. "Kein Zugzwang, aber auch kein Tabu", stellte die Ministerin fest. Deutschland mache sich nicht größer, als es sei, aber auch nicht kleiner. Und dann noch einmal zum Mitschreiben: "Unsere Interessen haben keine unverrückbare Grenze, weder geografisch noch qualitativ", lautete gestern ihr Impuls vor Hunderten Sicherheitsexperten, die nun gemeinsam über die Inhalte des neuen Weißbuches beraten.

Für Feinschmecker geht es dabei auch um die Selbstvergewisserung Deutschlands. Ist es eine "verantwortungsvolle Mittelmacht", wie der deutsche Politikberater Volker Perthes vorschlägt? Oder eine "mittlere Großmacht", wie sein britischer Kollege Robin Niblett glaubt? Auf jeden Fall hat alles in Deutschland Diskutierte und Beschlossene Auswirkungen auf die Meinungsfindung in Europa. Und deshalb steht bereits fest, dass die Bereitschaft Deutschlands, mehr Verantwortung in Europa und der Welt zu übernehmen, nicht erst übernächsten Sommer im Weißbuch stehen wird, sondern sich bereits in diesem Sommer militärisch niederschlägt: Die schnelle Speerspitze, mit der die Nato die Sicherheit osteuropäischer Mitglieder unterstreichen will, wird vor allem von den deutschen Streitkräften gestellt.

Damit stößt von der Leyen an enge Grenzen: Rund um die Uhr Einsatzbereitschaft herstellen zu können, jederzeit funktionierende Transportflugzeuge verfügbar zu haben - das gilt nach der beispiellosen Pannenserie des vergangenen Sommers als besondere Herausforderung.

Wie zur Bestätigung wurde gestern bekannt, dass bei einem Manöver der Schnellen Eingreiftruppe in Norwegen und Deutschland deutsche Soldaten schwarz gestrichene Besenstiele statt Waffenrohre an ihre gepanzerten Fahrzeuge montierten und darüber klagten, dass Fahrzeugbewaffnung, Maschinengewehre, Pistolen und Nachtsichtgeräte fehlten. Das Ministerium wies allerdings darauf hin, dass alle Verbände, die künftig als "Speerspitze" fungieren, voll ausgestattet sein sollen. Für sie gelte das "dynamische Verfügbarkeitsmanagement" nicht. Das klappt nach Hinweisen aus der Truppe immer wieder vor allem theoretisch, soll in der Praxis aber ebenfalls pannenanfällig sein.

Entstanden Weißbücher in früheren Jahrzehnten, indem die beteiligten Bundesministerien intern ihre Textvorschläge zusammenschoben und dann nach langen und heftigen Streitigkeiten das Ergebnis der Öffentlichkeit präsentierten, will von der Leyen von Anfang an öffentlich einbinden: auch Nato-Partner, auch internationale Organisationen, vor allem aber auch die Bürger, die über das Internet (www.weissbuch.de) den Prozess mit Anregungen und Bedenken begleiten sollen.

Ob dies für ein neues Bewusstsein sorgt? Über Jahrzehnte hatten es sich die Deutschen im Windschatten der Geschichte bequem eingerichtet. Wolfgang Ischinger, der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, hofft auf eine breite Debatte in der Gesellschaft, die den "massiven sicherheitspolitischen Wandel aktiv gestalten" müsse und nicht warten dürfe, "bis die Granate einschlägt".

Erwartet wird vom neuen Weißbuch, dass es ein Wort wieder an zentraler Stelle enthalten wird, das seit Jahrzehnten als antiquiert galt: Abschreckung. Denn davon ist von der Leyen überzeugt: Die neue Kreml-Politik habe lange vor der Ukraine-Krise begonnen und werde den Westen noch "sehr, sehr lange" beschäftigen.

(RP)
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