Auf Socken, ohne Stiefel

Sozialwissenschaftler Roland Roth von der Hochschule Magdeburg-Stendal lobt Jugendrichter wie Andreas Müller, die mit phantasievollen Maßnahmen junge Rechtsextremisten zur Räson bringen.

Düsseldorf Andreas Müller, der seit 1997 Jugendrichter beim Amtsgericht Bernau nördlich von Berlin ist, berichtet: "Ein siebzehn Jahre altes Mädchen, das als Zeugin aussagen sollte, stand vor mir und zitterte am ganzen Körper." Der bundesweit für seine Konsequenz und richterliche Fantasie im Kampf gegen junge Gewalttäter bekannte Jurist fährt fort: "Der Angeklagte, ein junger Mann, hatte dem Mädchen mit Springerstiefeln ins Gesicht getreten. Vor Prozessbeginn war das Opfer von jungen Leuten, die ebenfalls Springerstiefel trugen, angefeindet worden." Jugendrichter Müller reagierte auf seine Weise: "Mir wurde klar, was für eine Macht Springerstiefel haben, welche Angst sie verursachen. Ich habe Springerstiefel ein für allemal aus dem Saal verbannt."

Bei anderer Gelegenheit brachte Richter Müller einen als Zeugen geladenen NPDler zur Räson. Der Rechtsextremist war ebenfalls in Springerstiefeln erschienen. Es dauerte nicht lange, da stand er auf Socken vor der Richterbank. Müller hatte ihm klargemacht: "Entweder gehen Sie sofort in die Stadt und kaufen sich andere Schuhe, oder sie kommen auf Socken. Dreiviertel Stunde Bedenkzeit." Der Neonazi wurde kleinlaut und zog die Socken-Variante vor. Seine Springerstiefel, die Müller als "an den Füßen getragene Waffen" bezeichnet, stellte er vor der Gerichtstür ab.

NRW-Justizminister Thomas Kutschaty (SPD) meint: "Wenn ein Richter mit unkonventionellen Methoden Erfolg hat – warum nicht?" Roland Roth, Sozialwissenschaftler an der Hochschule Magdeburg-Stendal, hat für die Friedrich-Ebert-Stiftung eine Studie zum wirksamen Engagement gegen Rechtsextremismus erstellt. Roth ist begeistert von Jugendrichtern wie Andreas Müller, die die vielfältigen erzieherischen Möglichkeiten des Jugendstrafrechts einfallsreich nützen. Roth sagt, Müller sei kein "Richter Gnadenlos", dem es allein um eine möglichst harte Strafe gehe. Müller wähle den mühevollen Weg, er versuche pädagogisch auf junge Schläger einzuwirken, besuche sie auch im Arrest. Vielen von ihnen verbot er nicht nur das Erscheinen in Springerstiefeln vor Gericht, sondern er erteilte ihnen bestimmte Aufgaben, etwa den Besuch in einer KZ-Gedenkstätte oder das Schreiben eines Aufsatzes über Gewalt und deren Opfer.

Müller, der sich über Jahre hinweg beinahe aufgerieben hat in seinem richterlichen Vorkämpfer-Dasein gegen junge Rechtsextremisten, zeigt sich zwar erfreut über den Rückgang politisch motivierter Delikte: "Aber mittlerweile habe ich viel anderen Mist auf dem Tisch, Akten über aggressive Jugendliche, die zu viel saufen, die jeden grundlos angreifen, auch den Nachbarn von nebenan." Müller ("In meinem Beruf erlebe ich den alltäglichen Wahnsinn") klingt bitter, wenn er resümiert, er sei von Kollegen viel gelobt worden, aber eine Mehrheit in der Justiz fühle sich so überlastet, dass zusätzliche erzieherische Mühen unterblieben: "Ich hab' gekämpft. Wenn es nach mir gegangen wäre, wäre vielleicht vielen weiteren Opfern von Schlägern das Krankenhaus erspart geblieben."

Roth hebt hervor, dass gute Jugendrichter wie gute Hausärzte einen ganzheitlichen Therapieansatz leisten müssten. Juristen wie Müller hätten erfahren, dass beispielsweise zahlreiche Personen aus der Skinhead-Szene im Grunde völlig unpolitisch, jedoch diffus gewaltbereit seien. Roth: "Mit Null-Acht-Fünfzehn-Sanktionen werden sie denen nicht gerecht." Ein Großteil der Richter meine, wenn das Kind in den Brunnen gefallen sei, sprich: vor Gericht stehe, sei ohnehin nicht mehr viel zu erreichen. Roth: "Das stimmt so nicht." Wohl gebe es verstockte Jungnazis, die beim verordneten KZ-Besuch die Ohren auf Durchzug stellten; aber gerade unter Jugendlichen gebe es "eine gewisse moralische Sensibilität". Roth berichtet von Erziehungs-Veranstaltungen, bei denen Überlebende aus Konzentrationslagern jungen Übeltätern von ihren Qualen erzählten: "Da war es oft mucksmäuschenstill, da konnten sie eine Stecknadel fallen hören."

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