Besuch in Beirut Advent im Land der Flüchtlinge

Zahlé · 1,3 Millionen Verzweifelte sind vor dem Bürgerkrieg in Syrien in den Libanon geflohen – jeder dritte Einwohner ist nun ein Vertriebener. Die Menschen schwanken zwischen Hoffnung und Resignation. Ein Besuch in Beirut und im Bekaa-Tal an der syrischen Grenze.

Zu Besuch bei Flüchtlingen im Libanon
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1,3 Millionen Verzweifelte sind vor dem Bürgerkrieg in Syrien in den Libanon geflohen — jeder dritte Einwohner ist nun ein Vertriebener. Die Menschen schwanken zwischen Hoffnung und Resignation. Ein Besuch in Beirut und im Bekaa-Tal an der syrischen Grenze.

Auf dem Weg von der libanesischen Hauptstadt Beirut ins Bekaa-Tal an der syrischen Grenze ist der kleine Lastwagen an einem Berg mit Motorschaden liegengeblieben; seine offenkundig mangelhaft auf der offenen Ladefläche befestigte Fracht hat er schon vorher zum Teil verloren: Pralle roséfarbene Luftballons, wohl als Weihnachtsschmuck gedacht, säumen die Straße.

In dem kleinen arabischen Land am Mittelmeer, fast ganz umzingelt vom Bürgerkriegsland Syrien, wird das christliche Fest geradezu trotzig öffentlich vorbereitet: Christbäume jeder Größe stehen auf Plätzen und vor Geschäften, rotgekleidete Weihnachtsmänner grüßen von Plakaten, und prächtige silberne Engel mit Lametta schmücken die Schaufenster.

 Weihnachtsmänner in einem Geschäft für Haushaltswaren und Sportartikel im Bekaatal im Libanon.

Weihnachtsmänner in einem Geschäft für Haushaltswaren und Sportartikel im Bekaatal im Libanon.

Foto: Helmut Michelis

Die 150.000-Einwohner-Stadt Zahlé, von der man aus die nahen Berge Syriens sehen kann, habe gerade zum vierten Mal den Preis für die schönste Weihnachtsbeleuchtung des Landes erhalten, berichtet Susanne Carl. Die Mannheimerin organisiert für die deutsche Organisation "Humedica" die medizinische Betreuung von Flüchtlingen in Zahlé.

Sich offen zum Glauben bekennen, fällt schwer

Nicht für jeden im Libanon wird es diesmal ein frohes Fest: Der griechisch-orthodoxe Christ Nader (37) ist einer von 1,3 Millionen syrischen Kriegsflüchtlingen im Land und will mit seiner vierköpfigen Familie so schnell wie möglich weiter nach Kanada: "Alles ist besser als hierzubleiben für meine beiden kleinen Töchter." In Zahlé, das fast ausschließlich von Christen bewohnt ist, besucht Nader jedes Wochenende eine protestantische Kirche.

Sich offen zu seinem Glauben zu bekennen, fällt ihm noch immer schwer: "Vier Jahre haben wir in Damaskus kein richtiges Weihnachten mehr gefeiert, zu groß war die Angst vor Verfolgung. Den extra kleinen Christbaum haben wir im Schlafzimmer versteckt und die Lichterkette lieber dunkel gelassen. Aber für die Kinder gab es jedes Mal Kuchen und Schokolade."

Seine Eltern hätten ihn Nader getauft, damit er durch einen christlichen Namen nicht in Gefahr geraten sollte. Auch im Libanon fühlt sich der Syrer nicht sicher: Jederzeit könnte die Terrormiliz "Islamischer Staat" das kleine Land erobern, befürchtet er.

Die Angst ist nicht aus der Luft gegriffen: Vor wenigen Tagen sind eine Ehefrau und eine Tochter von Abu Bakr al Baghdadi, dem selbsternannten Kalifen und Anführer der in Syrien und im Irak wütenden Terrormiliz "Islamischer Staat", im Bekaa-Tal festgenommen worden. Der Libanon ist in Alarmstimmung: Vier Straßensperren müssen von Beirut aus ins Tal passiert werden; immer wieder sind Militärkolonnen und Soldaten in Kampfanzügen zu sehen.

Mobile Ärzteteams ziehen von Dorf zu Dorf

Die Kämpfe in Syrien und Irak verschonen auch Muslime nicht: Die weitaus meisten Kriegsflüchtlinge, die im Bekaa-Tal Obdach gefunden haben, gehören dieser Religion an. Im Libanon ist inzwischen mehr als jeder dritte Mensch ein Flüchtling und kann — bedroht vom Assad-Regime oder dem "IS" — nicht mehr nach Hause zurück.

Umgerechnet auf Deutschland müsste die Bundesrepublik fast 30 Millionen Verzweifelte aufnehmen — ein unvorstellbares Szenario. Diese ungewollte Völkerwanderung wird den libanesischen Staat und die Gesellschaft mutmaßlich erheblich verändern. "Es ist erstaunlich, wie ruhig es trotz dieser Größenordnungen hier geblieben ist", meint Susanne Carl.

Mobile Humedica-Ärzteteams ziehen von Zeltdorf zu Zeltdorf und bieten Sprechstunden an — bis zu 160 Patienten werden pro Tag behandelt, berichtet Mitarbeiter Wael, während er in Jdita in Zeltsiedlung Nummer 38 (insgesamt 800 existieren im Bekaa-Tal) die Wartenden einteilt.

Hier bekommen die anonymen Flüchtlingsmassen Gesichter: Da ist der vierjährige Abdala, der — wie so viele Kinder im Lager — Hepathitis A hat, eine Lebererkrankung, die durch verunreinigtes Trinkwasser verursacht wird. Liebevoll kümmert sich die einheimische Humedica-Ärztin Natalie auch um den zwölfjährigen Ahmad, der über eine Pilzerkrankung der Haut klagt. Einen Klapptisch weiter teilt die Apothekerin Iman Salben und Tabletten aus.

Der Winter droht rau zu werden

Draußen vor dem für die Ärzte leergeräumten Zelt aus Holz und Plastikplanen hustet eine ältere Frau heftig — Atemwegserkrankungen haben durch das kalte Wetter massiv zugenommen. Noch ist es nachts um die sieben Grad. Doch der Winter droht deutlich rauer zu werden, auf den umliegenden Bergen liegt bereits Schnee.

Susanne Carl, die das Humedica-Hilfsprojekt bereits seit anderthalb Jahren betreut und die einzige Deutsche unter den internationalen Helfern in Zahlé ist, berichtet über Finanzierungsprobleme der großen Hilfsorganisationen: Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen hat für Dezember noch mühsam die Ausgabe von 30-Dollar-Einkaufsgutscheinen pro registriertem Flüchtling sicherstellen können, für Januar ist kein Geld mehr da. "Den meisten internationalen Hilfsorganisationen hier ist in diesem Jahr das Budget gekürzt worden", sagt Carl.

Das Humedica-Projekt in Zahlé kostet rund 395.000 Euro jährlich, 90 Prozent davon übernimmt das Auswärtige Amt. Mehr als 50.000 Patienten haben die fünfköpfigen Humedica-Teams bereits behandelt, bis zu 160 sind es pro Tag. "Verteilt haben wir auch 500 Öfen und Zehntausend Mützen und Decken", sagt Susanne Carl und setzt tief besorgt hinzu: "Das Schlimmste ist, wenn diese humane Katastrophe in Vergessenheit geraten würde."

"Wir warten hier einfach nur"

Große Flüchtlingslager wie in den Nachbarstaaten sieht man im Libanon nicht. Die Syrer werden vom Staat nur geduldet und siedeln sich in kleinen Gruppen auf von Bauern gemieteten Äckern an. Überall im Bekaa-Tal sieht man diese kleinen Camps.

In Zeltsiedlung 8 bei Rawda hat die achtjährige Fathia gerade Spüldienst; das Wasser ist so braun wie der matschige Boden. Obwohl die Frauen die mit Teppichen ausgelegten Zelte sorgfältig sauber halten und überall Wäsche auf der Leine hängt, sind die Hygienebedingungen schlecht: Da es keine Kanalisation gibt, fließt das Abwasser nicht ab und verwandelt die Wege in klebrige Schlammpisten.

Viele Menschen in Zeltdorf 8 stammen aus Idlib im Nordwesten Syriens. Eine 20-Jährige, die gerade ein Baby bekommen hat und aus Angst ihren Namen nicht nennen will, erzählt über ihre kriegsverwüstete Heimat: "Ich würde so gern zurückkehren, aber ich habe keine Hoffnung mehr. Wir warten hier einfach nur, Tag um Tag."

Ähnlich sieht es der Kaufmann Torad (40): "Vor zwei Wochen ist meine Frau kurz nach Idlib zurückgekehrt. Unser Haus war halb zerstört. Noch immer gibt es Gefechte." Zwölf Kinder hat Torad, von denen die kräftigsten bei libanesischen Bauern arbeiten. Vier Dollar gebe es für die Kartoffelernte pro Tag. So versucht sich die Familie am Leben zu halten. "Drei Jahre sind wir nun schon hier. Wir sind sehr müde."

Angemietete Wohnungen statt Lager

Die meisten Flüchtlinge wohnen indes nicht in provisorischen Lagern, sondern in angemieteten Wohnungen quer durch das Land. Viele Menschen mit hohem Bildungsniveau sind darunter — wie eine christliche Familie aus der Hafenstadt Latakia, die scheinbar ganz normal in einem Hochhaus im Süden Beiruts lebt. Die Wohnung ist karg, doch ausreichend möbliert, im Wohnzimmer hängt ein großes Holzkreuz, auf dem Tisch liegt ein iPad.

Der Vater (54) ist Bauingenieur, die Mutter (49) Englischlehrerin. Zurück nach Syrien können sie nicht mehr, nicht nur wegen der Kämpfe: Die Pässe der drei Söhne (19, 23 und 26), werden nicht mehr verlängert, weil sie der Einberufung des Assad-Regimes zum Wehrdienst nicht folgen wollen. "Wir sitzen hier in der Zwickmühle", sagt die Mutter. "Wir leben in ständiger Angst."

Das UN-Büro in Beirut hat der Familie jetzt Hoffnung gemacht: "Vielleicht wird die Ausreise nach Deutschland genehmigt. Dann wird es doch noch ein fröhliches Weihnachtsfest."

(RP)
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