Gewalt und Deeskalation Anaheim - Amerikas Stadt der Güte

Anaheim · Im kalifornischen Anaheim predigt der Bürgermeister den freundlichen Umgang - und kann so Polizisten einsparen.

 Mary Hanne hat sich in Anaheim die Hand aufs Herz gelegt, während die US-Nationalhymne gespielt wird. Der US Bürgerschafts- und Einwanderungsservice USCIS hatte in drei Zeremonien mehr als 1700 Einwanderern die US-Staatsbürgerschaft verliehen.

Mary Hanne hat sich in Anaheim die Hand aufs Herz gelegt, während die US-Nationalhymne gespielt wird. Der US Bürgerschafts- und Einwanderungsservice USCIS hatte in drei Zeremonien mehr als 1700 Einwanderern die US-Staatsbürgerschaft verliehen.

Foto: dpa

Was Tom Tait unter guten Taten versteht, hat er exemplarisch in seinem Büro dokumentiert. Große Schwarzweißfotos hängen dort an der Wand. Eines zeigt einen Jungen, auf dem Kopf eine Wollmütze, der sich neben einen Rollstuhl gesetzt hat, um die Hand eines behinderten Mädchens zu halten. Ein zweites einen Feuerwehrmann, die Riemen seines Helms nach dem Löscheinsatz gelockert, der neben einem Kinderwagen kniet und einem Baby zulächelt. Dann wäre da noch der sprichwörtliche Durchschnittsamerikaner mit Baseballkappe, der für eine betagte Nachbarin die Einkaufstüten trägt. In der Ecke steht ein Schild, auf dem in Großbuchstaben zu lesen ist, dass Freundlichkeit zählt: "Kindness matters."

Seit Tait der Bürgermeister Anaheims ist, schmückt sich der Ort, gegründet vor 160 Jahren von Einwanderern aus Bayern, mit dem Titel "City of Kindness". Stadt der Güte, der Liebenswürdigkeit, der guten Taten. Für andere den Müll wegbringen, den Nachbarn fragen, ob er etwas braucht, sich auf dem Schulpausenhof jemandem zuwenden, den die anderen meiden. Kleine Gesten, sagt Tait und erzählt, dass er für die Schulen das Ziel ausgab, eine Million gute Taten zu vollbringen, zu zählen von den Lehrern. Mal wurden Spenden gesammelt, damit auch Teenager aus armen Verhältnissen festlich gekleidet am Abschlussball teilnehmen konnten. Mal wurden einfach Zettel mit dem Spruch "Hab einen tollen Tag!" verteilt.

City of Kindness - ein Werbegag?

City of Kindness - man mag das für einen Werbegag halten, zumal Anaheim mit seinen 350.000 Einwohnern, eine Pendlerstadt im Schatten der Metropole Los Angeles, sonst nur selten für Furore sorgt. Einmal abgesehen davon, dass sie mit den Anaheim Ducks über ein veritables Eishockeyteam verfügt. Die City Hall ist ein x-beliebiger Würfel mit Glasfassade, und auch der Blick aus Taits Büro im obersten Stockwerk ist nicht wirklich spektakulär. Draußen das typisch amerikanische Schachbrettmuster: die Straßen schnurgerade Linien, die Häuser flache, eintönige Klötze. Wäre da nicht die Stadionschüssel der Ducks und das kalifornische Disneyland mit seinen Türmchen und Achterbahnen, man suchte vergeblich nach optischen Punkten, die herausragen aus der Monotonie.

Also die Nächstenliebe. Als sich Tait 2010 um das Amt des Bürgermeisters bewarb, tat er es mit dem Slogan "City of Kindness". Auf die Idee brachte ihn ein Mädchen namens Natasha Jaievsky, das im Alter von sechs Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Vor ihrem Tod hatte sie viel gezeichnet, etwa einen Regenbogen, unter dem in der krakeligen Schrift einer Erstklässlerin steht: "Mein Wunsch ist es, Menschen zu helfen". Natashas Vater, ein aus Argentinien eingewanderter Arzt, klebte zum Andenken an seine Tochter Plakate, auf denen stand, dass Herzensgüte anstecken möge. Tait beschloss, es zum Motiv seines Wahlkampfs zu machen.

"Ich hatte keine Ahnung, wie die Leute reagieren würden. Ehrlich gesagt, hatte ich Angst, dass sie mich auslachen könnten", erinnert sich der hochgewachsene Mann. "Ob sie mich für naiv halten? Ob sie sagen, was ist das denn für ein Träumer?" Solche Gedanken, erzählt Tait, seien ihm vor seinem ersten Kandidatenauftritt durch den Kopf gegangen. Zudem sei er nie ein großer Redner gewesen, eigentlich zu schüchtern, zu leise für den Politikbetrieb. Was Tait, Firmenerbe eines Ingenieurbetriebs mit 150 Beschäftigten, allerdings gut kann, ist Organisieren.

"Menschliche Güte ist eine Sprache, die jeder versteht"

Deshalb haben sie ihn schon in den 90er Jahren als Ratsherrn in die City Hall geholt, zu einer Zeit, als Anaheim in den Bankrott gerutscht war und die Stadtverwaltung nüchterne Technokraten nötiger brauchte denn je. Später fanden die Bürger Anaheims Gefallen daran, wie der eher zurückhaltende Tom Tait übers Freundlichsein sprach. Anaheim, erklärt er seinen Ansatz, ist eine Stadt von Einwanderern, jeder zweite Bewohner ein Immigrant. Die Leute stammen aus verschiedenen Weltgegenden, aus verschiedenen Kulturen, der Humor ist verschieden, "man spricht erst mal keine gemeinsame Sprache", sagt Tait.

"Doch menschliche Güte ist eine Sprache, die jeder versteht. Ein verbindendes Band." Und wo es Bindungen gebe, entstehe das, was er soziale Infrastruktur nenne. Wo die Leute einander kennen, hätten, um nur ein Beispiel zu nennen, Einbrecher kein so leichtes Spiel. Wo man versuche, Leute aus der sozialen Isolation zu holen, sinke die Drogenabhängigkeit. Wo Menschen einander helfen, fügt Tait hinzu, könne eine Kommune Geld sparen.

Anaheim muss in der Tat kräftig sparen, allein schon die in besseren Zeiten zugesagten, üppig bemessenen Pensionen, die es seinen Angestellten im Ruhestand zu zahlen hat, zwingen dazu, anderswo den Rotstift anzusetzen. Auf die 350.000 Einwohner von Anaheim kommen gerade mal 380 Polizisten, während es in US-Städten vergleichbarer Größe durchschnittlich 850 sind. Wer eine Kultur der Nettigkeit pflege, meint Tait, der stärke den Bürgersinn. Was wiederum helfe, auch bei angespannter Kassenlage über die Runden zu kommen. Irgendwann erfuhr der Dalai Lama von der "City of Kindness" und lud den Bürgermeister ein, ihn an seinem indischen Wohnsitz zu besuchen. Seitdem, kann man sagen, ist der Geistliche Taits bester Verbündeter.

Vor ein paar Monaten, als es bei den Debatten im Rathaus um die meist eher unfreundliche Sprache von Donald Trump ging, trat der Bürgermeister allerdings auf die Bremse. Zur Debatte stand eine Resolution, in der die "spaltende Rhetorik" des Präsidenten verurteilt werden sollte, die Art, wie er im Wahlkampf über Frauen, Mexikaner oder Behinderte redete. Tait, seines Zeichens Republikaner, stimmte gegen das Protestpapier. Aus der großen Politik, begründete er seine Entscheidung, möge sich die Lokalverwaltung von Anaheim besser raushalten, es gebe im eigenen Beritt genug zu tun. Spricht man ihn heute auf Trump an, zitiert er den Dalai Lama: In jedem Menschen schlummere Güte. "In diesem Fall", sagt Tait, "wünschte ich mir nur, dass mehr davon sichtbar wird." Sehr freundlich formuliert - eben typisch Anaheim.

(fh)
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