Analyse zu Ägypten Angst vor der Eskalation nach Mursis Sturz

Düsseldorf · Die Konfrontation zwischen Anhängern und Gegnern des gestürzten Präsidenten droht Ägypten ins Chaos zu stoßen. Ein Teil der Islamisten könnte sich radikalisieren. Der Ausbruch eines Bürgerkriegs wie in Syrien ist aber trotzdem eher unwahrscheinlich.

Analyse zu Ägypten: Angst vor der Eskalation nach Mursis Sturz
Foto: dpa, Hassim Dabi

Das Symbol für die politische Sackgasse, in der sich Ägypten seit dem Sturz von Hosni Mubarak vor zweieinhalb Jahren befindet, liegt vor den Toren von Kairo: Im Tora-Gefängnis sitzen neuerdings neben dem alten Despoten auch die Führer der von der Armee entmachteten Muslimbrüder hinter Gittern. Das demokratische Experiment ist im ersten Anlauf gescheitert, und noch weiß niemand, ob es wirklich einen zweiten geben wird — allen Beteuerungen der uniformierten Putschisten zum Trotz.

Wie es jetzt in Ägypten weitergeht, hängt von vielen Faktoren ab, vor allem aber vom Vorgehen der Armee und der Reaktion der Muslimbrüder auf den Sturz von Präsident Mohammed Mursi. Die Anhänger der Islamisten machen nach Schätzungen etwa ein Viertel der Bevölkerung aus — eine starke, vor allem aber die über Zigtausend Moscheen politisch am besten organisierte Gruppe der Gesellschaft. Die Muslimbrüder haben jetzt im Grunde zwei Optionen: Entweder machen sie gute Miene zum bösen Spiel und treten bei möglichen Wahlen erneut an, wohl wissend, dass sie dieses Mal wahrscheinlich keine Mehrheit mehr erringen. Oder aber sie ziehen aus der Entmachtung "ihres" Präsidenten den Schluss, dass sie ihre Ziele auf friedlichem, demokratischem Weg nicht erreichen können, und setzen auf Gewalt.

Die erste Option setzt freilich voraus, dass die Islamisten vom politischen Prozess nicht ausgeschlossen werden. Die ersten Maßnahmen der Armee — Massenverhaftungen unter Funktionären der Bruderschaft sowie die Abschaltung ihnen nahstehender TV-Sender — lassen da freilich erste Zweifel aufkommen, ebenso wie die Reaktionen der Mursi-Gegner, die an Dialog und Kompromiss nicht viel mehr Interesse zeigen als die Islamisten während ihrer einjährigen Regierungszeit.

Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass sich wenigstens ein Teil der Muslimbrüder radikalisieren wird. Nach beinahe acht Jahrzehnten der politischen Verfolgung dürften jetzt jene innerhalb der Bewegung Auftrieb bekommen, die dem demokratischen Weg schon immer misstraut haben und die jetzt mit dem Heiligen Krieg liebäugeln. Wohin das führen kann, hat man in Algerien gesehen, wo die Armee Anfang der 90er Jahre einen Wahlsieg der Islamischen Heilsfront kassierte. Die Islamisten gingen in den Untergrund und überzogen das Land mit blutigem Terror, der Staat schlug nicht minder grausam zurück. Resultat: Mehr als 200 000 Tote und eine Welle der Gewalt, die bis nach Europa schwappte.

Droht Ägypten jetzt also ebenfalls ein Bürgerkrieg und der Welt ein zweites Drama wie in Syrien? Dafür spricht nicht viel, vor allem aus zwei Gründen: Eine konfessionelle Zersplitterung wie in Syrien gibt es in Ägypten nicht, vor allem nicht den wahren Motor dieses Konflikts, den Hass zwischen Sunniten und Alawiten. Gewiss, Spannungen zwischen sunnitischer Mehrheitsgesellschaft und den religiösen Minderheiten wie Christen und Schiiten gibt es auch am Nil, aber unvergleichlich weniger stark ausgeprägt als in Syrien, das längst zum Schlachtfeld eines Stellvertreterkriegs zwischen den jeweiligen Schutzmächten der beiden muslimischen Glaubensrichtungen geworden ist, dem Iran und Saudi-Arabien.

Mursis Leute haben der Versuchung nicht widerstehen können, dem Rest der ägyptischen Gesellschaft ihren Willen aufzuzwingen. Die große Frage ist jetzt, ob die buntscheckige Opposition gegen Mursi, die nicht viel mehr verbindet als ihr gemeinsames Feindbild, in der Lage sein wird, politische Verantwortung zu übernehmen. Und dabei geht es vor allem auch um ganz handfeste wirtschaftliche und finanzielle Fragen. Die Frömmler um Mursi haben bei der praktischen Regierungsarbeit komplett versagt. Das hat vielleicht mehr noch als die von den Muslimbrüdern betriebene Islamisierung des Landes zum rasanten Popularitätsverlust des Präsidenten beigetragen. Viele Ägypter, die vor einem Jahr noch für ihn (und nebenher gegen einen Vertreter des alten Mubarak-Regimes) gestimmt hatten, jubelten gemeinsam auf dem Tahrir-Platz mit Mursi-Gegnern der ersten Stunde, als die Nachricht von der Entmachtung des Staatschefs bekannt wurde.

Ägypten steuert auf einen Staatsbankrott zu, das Wirtschaftswachstum sinkt weiter, die Arbeitslosigkeit steigt. Seit dem Sturz Mubaraks fehlt dem Land am Nil ein großer Teil der Touristen, die einst für zwölf Prozent des Bruttoinlandsprodukts und für Hunderttausende Jobs sorgten. Die Mursi-Regierung hatte bereits mit dem Internationalen Währungsfonds über einen Notkredit verhandelt, für dessen Genehmigung sich das Land aber zu schmerzhaften Reformen verpflichten müsste, insbesondere zur Streichung von Subventionen in Milliardenhöhe — einer Maßnahme, die gerade die darbenden Schichten der Gesellschaft hart treffen würde.

Wer immer auch Ägypten künftig regiert, er steht vor einer übermächtigen Herausforderung. Es mag zynisch klingen, aber es steckt darin auch eine Chance: Viele Ägypter werden auf absehbare Zeit zu sehr mit dem täglichen Überlebenskampf beschäftigt sein, um sich für ideologische Fragen zu interessieren. Es besteht also in Ägypten durchaus die Hoffnung auf die Herausbildung eines ganz pragmatisch motivierten Säkularismus.

(RP)
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