Ukraine-Kirse Außenpolitik am Abgrund

Marrakesch/Tunis/Algier · Vor einem Jahr haben Bundespräsident, Außenminister und Verteidigungsministerin angekündigt, dass Deutschland mehr Verantwortung übernehmen werde. Während der Maghreb-Reise von Frank-Walter Steinmeier wird auf dramatische Weise deutlich, was das für die Akteure heißt.

 Außenminister Steinmeier bei einer Pressekonferenz in Tunis.

Außenminister Steinmeier bei einer Pressekonferenz in Tunis.

Foto: dpa, lus wst

Scheinbar lässig, die Beine über kreuz gestellt, lehnt Frank-Walter Steinmeier an einem Stehtisch in der Residenz von Andreas Reinicke, Deutschlands Botschafter in Tunesien. Hinter ihm leuchtet ein großer Pool in verführerischem Blau-Grün, vor ihm rockt Hamid Baroudi den Empfangsraum. Der deutsch-algerische Sänger ist seit seinem Song "Caravan to Bagdad" ein Megastar in der arabischen Welt - und Mitglied einer großen Politik-Wirtschafts- und Kulturdelegation, mit der Steinmeier die Maghreb-Staaten bereist. Der linke Fuß des Ministers wippt im Takt der Musik. Auf der Reise selbst scheint alles nach Plan zu laufen, Steinmeier könnte entspannt und zufrieden sein. Doch jeder sieht, dass die Miene nur aufgesetzt ist. Tatsächlich steht seine Außenpolitik am Abgrund, sind seine Gedanken bei den Separatisten in der Ostukraine, die gerade seine Friedensinitiative zerschießen.

Rückblende: München, 1. Februar vergangenen Jahres. Auf der Sicherheitskonferenz spricht Steinmeier von seinen Empfindungen, als er vier Wochen zuvor nach vier Jahren in der Opposition in sein Ministerbüro am Werderschen Markt zurückgekehrt war. "Es ist dasselbe Büro, es ist derselbe Schreibtisch, aber ist es noch dieselbe Welt?" Die Gewalt sei näher an Europa herangerückt, ja sogar auf den europäischen Kontinent zurückgekehrt. Nicht wegducken, lautet die Aufforderung von Bundespräsident Joachim Gauck, Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen stimmt mit ein. Und auch Steinmeier gibt sieben Thesen zu Protokoll. Die erste und wichtigste: "Deutschland muss bereit sein, sich außen- und sicherheitspolitisch früher, entschiedener und substanzieller einzubringen."

Früher, entschiedener, substanzieller. Die drei Worte stehen auch in Tunis im Raum. Nebenan löst sich die staatliche Ordnung in Libyen auf, sprechen ausländische Diplomaten immer lauter von der Notwendigkeit einer Intervention und von der Erwartung, dass Deutschland sich nicht wieder abseits stellen werde. Früher, entschiedener substanzieller. Was kann Deutschland dazu beitragen, dass aus Steinmeiers Besuchsländern Marokko, Tunesien und Algerien nicht weiter Tausende von Islamisten in den Dschihad ziehen, dass nicht weiter Deutsch-Marokkaner, Deutsch-Tunesier und Deutsch-Algerier in Deutschland zu Gefährdern und Terror-Bedrohungen werden? Kurzfristig verstärkte Zusammenarbeit der Geheimdienste und anderer Sicherheitsbehörden, mittelfristig die staatlichen Strukturen im Kampf gegen Al-Qaida und Islamischen Staat stärken, langfristig durch Millionen-Programme und die Ankurbelung von deutschen Investitionen im Maghreb über Arbeitsplätze und Einkommen den arbeitslosen, frustrierten und für die Islamisten anfälligen Jugendlichen eine andere, bessere Perspektive bieten.

All das hat Steinmeier im Gepäck. All das will er nun in Dutzenden von Gesprächen auf den Weg bringen. Aber die dramatischen Entwicklungen in der Welt überlagern jede Station seiner Reise, zwingen ihn immer wieder, zwischen den Terminen intensive Telefonkrisengespräche einzulegen. Er sitzt in Tunis zwar Ramtane Lamamra, dem tunesischen Außenminister, gegenüber und versucht sich auf die Entwicklung des Mali-Konfliktes, auf die muslimischen Befürchtungen nach dem Attentat in Paris zu konzentrieren. Doch sein eigentliches Gegenüber in diesem Moment sitzt 2200 Kilometer entfernt und heißt Alexander Sachartschenko und ist der "Ministerpräsident" der selbst ernannten "Volksrepublik Donezk", also der Rebellenführer in der Ostukraine.

Ganz gleich, welches Rollfeld auf der Welt Steinmeier betritt, das Problem Ukraine hat ihn schon wieder eingeholt. Beim Start Donnerstag Früh in Berlin ist Steinmeier für seine Verhältnisse beschwingt. Wenige Stunden zuvor hat er im Gästehaus des Auswärtigen Amtes zusammen mit seinem Amtskollegen und Freund Laurent Fabius den russischen und ukrainischen Außenminister, Sergej Lawrow und Pawlo Klimkin, zu einer bemerkenswerten Verständigung gebracht. Rückkehr zum Minsker Übereinkommen, Entflechtung der Artillerie, Inpflichtnahme Russlands für eine neue Ost-West-Annäherung. Bundeskanzlerin Angela Merkel, mit der Steinmeier ständig in Kontakt steht, belohnt dieses dezente Signal von Russlands Präsident Wladimir Putin in Davos mit dem indirekten Angebot, auf Putins Idee eines EU-Russland-Freihandelsraumes einzugehen, wenn die Ukraine-Krise entschärft wird. Der blaue Himmel über Marrakesch spiegelt die Laune Steinmeiers wider. Aus der Ostukraine werden ein paar Gefechte gemeldet. Es klingt nicht dramatisch. Im Laufe des Tages muss sich zeigen, ob die Verständigung zählt.

Sie zählt nicht. Die Granate auf eine Bushaltestelle in der Ostukraine zwingt ihn, den nachmittäglichen Appell an die Konfliktparteien am Abend mit einer schärferen Erklärung zu ergänzen. Während Steinmeier nach Tunis wechselt, kündigt Sachartschenko in Donezk an, die Entscheidung in der Schlacht zu suchen. Steinmeier verwendet in Tunis daraufhin erstmals den Vorwurf der "Kriegstreiberei", mit der der Verständigungskurs unterlaufen werde. Einen Tag später in Algier haben Steinmeier die Nachrichten vom Granatenfeuer auf Mariupol mit vielen Toten erreicht. Nun lässt er auch letzte diplomatische Zurückhaltung fallen und spricht ausdrücklich von den Erwartungen an Russland, für die Einhaltung der Vereinbarungen zu sorgen, nennt auch ausdrücklich Sachartschenko in Verbindung mit seinem Vorwurf, das sei "nichts als Kriegstreiberei".

Früher, entschiedener, substanzieller. Von Anfang an war Steinmeier der wichtigste und den Rhythmus bestimmende Moderator in der Ukraine-Krise. Er hat in der dramatischen Nacht vom 20. zum 21. Februar letzten Jahres den Bürgerkrieg abwenden können und damit zugleich den Sturz von Präsident Viktor Janukowytsch eingeleitet. Und er ist nun auch in Tunis und Algier der wichtigste Telefonpartner seiner Amtskollegen, wenn eine Sondersitzung des Weltsicherheitsrates und ein Sondertreffen der EU-Außenminister auf den Weg gebracht wird.

"Ja, unsere Welt kann einem Angst einräumen", sagt Steinmeier in Tunis vor mehr als 300 Studenten der El Manar-Universität. Er hat sich vorgenommen, einen besonders markanten Punkt zu setzen, sich mitten in der islamischen Welt zu seinem christlichen Glauben zu bekennen, der sein Handeln inspiriere, der aber nicht selbst zum Gegenstand seiner Politik werden dürfe. Damit will er offenkundig die Führer der islamischen Staaten zu einem ähnlichen, von der Religion getragenen aber nicht von den Regeln des Islams bestimmten Politikverständnis bewegen. Der Aufschlag verpufft bei seinem Publikum. Die Studenten sind im Streik. Sie interessieren sich für bessere Bedingungen an der ingenieurwissenschaftlichen Fakultät. Und sie machen sich Sorgen, dass die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus selbsternannten Despoten in der Region wieder zum Vorwand dienen könnte, die blutig erkämpften Freiheiten einzuschränken.

Für Steinmeier kann dies nur bedeuten, angesichts des neuen Kriegsgeschehens in Europa die am Abgrund stehenden Länder Nordafrikas bloß nicht zu vernachlässigen. Zu oft hätten die neuen Freiheiten die Islamisten an die Macht gebracht, lautet die Sorge der Studenten. Und aus den Gesprächen mit vielen Ministern und Parlamentariern nimmt Steinmeier die Erkenntnis mit, dass selbst die scheinbar stabilen Maghreb-Staaten nur eine fragile Struktur aufweisen, die Regierungsbildung in Tunis am Rand des Scheiterns steht und jederzeit personelle Veränderungen neue verhängnisvolle Entwicklungen bewirken können. Algeriens Präsident Abdelaziz Bouteflika ist 76, Tunesiens Präsident Beji Caid Essebsi ist 88.

Mitten in die Reise platzt die Nachricht vom Tod des saudischen Königs Abdullah. Überall gehen die Fahnen auf Halbmast, überall macht sich Verunsicherung über die künftige Ausrichtung der weit ausstrahlenden islamischen Ordnungsmacht breit. Als hätte Steinmeier nicht schon genug Bälle in der Luft, kommt nun in intensiver Regierungskommunikation noch die Frage dazu, wer mal eben nach Riad zur Beerdigung des Königs fliegen soll. Gauck feiert seinen seit langem vorbereiteten Geburtstag, Merkel ist erkrankt und als Regierungschefin protokollarisch angesichts des aktuellen Standes der deutsch-saudischen Beziehungen vielleicht auch etwas zu hoch angesiedelt. Soll vielleicht der Vizekanzler hin? Auch eine Reise des Außenministers wird erwogen, wo der doch ohnehin schon in der Region unterwegs ist. Merkel schlägt schließlich vor, Altbundespräsident Christian Wulff zu bitten. Steinmeier schließt sich an, kann seine Maghreb-Tour fortsetzen.

Doch die wird weiter von drohender und eskalierender Gewalt geprägt. Auf die Ermordung einer japanischen Geisel durch die IS-Terroristen reagiert er, indem er den Angehörigen sein Mitgefühl ausdrückt und das "abscheuliche Verbrechen" verurteilt. "Mit aller Kraft" werde er sich dem "menschenverachtenden Terror" entgegen stellen. Damit kehrt er für den Augenblick in seinen Gesprächen in Algier zu dem eigentlichen Sinn seiner Reise zurück, will auch Algerien stärken im Kampf gegen den Terror.

"Wie schön, wenn es klare, einfache Antworten gäbe", seufzt Steinmeier vor den Studenten in Tunis. Die Wahrheit sei: "Es gibt sie nicht." Vor allem nicht, wenn die drei Worte "früher, entschiedener, substanzieller" zum Maßstab deutscher Außenpolitik geworden sind.

(may-)
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