Helmut Michelis in Ruanda (2) Das Land der Kinder

Kigali · 20 Jahre nach dem Völkermord in Ostafrika hat unser Autor Helmut Michelis Ruanda bereist. Er traf mutige Menschen und sah Zeugnisse schrecklicher Verbrechen. In SOS-Kinderdörfern sah er Ruandas Hoffnung auf eine bessere Zukunft: Kinder, die in Frieden lesen und schreiben lernen. In vier Teilen berichtet der Autor von seinen Erlebnissen.

Helmut Michelis in Ruanda: Zu Besuch im SOS-Kinderdorf
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Helmut Michelis in Ruanda: Zu Besuch im SOS-Kinderdorf

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Die Straße von der Hauptstadt Kigali nach Byumba im Norden ist von Hunderten, vielleicht sogar Tausenden von Kindern gesäumt: spielend, wartend oder auf dem Weg zur Schule. Ruanda ist ein extrem junges Land: Fast jeder zweite der knapp zwölf Millionen Einwohner ist jünger als 14 Jahre alt. Die Regierung sieht darin die große Chance, die innere Teilung des Landes nach dem Völkermord von 1994 zu überwinden.

"Wir sind alle Ruander", höre ich immer wieder - eine nationale Einigkeit, die besonders in Schulen und Kindergärten propagiert wird. Im Berufsbildungszentrum von "SOS-Kinderdörfer weltweit" treffe ich Dieudonné Gakire. Der 22-jährige Tutsi stellt mir stolz sein erstes Buch vor — über den Völkermord in seiner Heimat Ruanda. Es ist sein Weg, mit dem Trauma fertig zu werden: Gakire verlor bei den Massakern 1994 seinen älteren Bruder und musste mitansehen, wie Nachbarn seinen Großvater fesselten und folterten.

Später, als der junge Mann im Berufsbildungszentrum der deutschen Hilfsorganisation "SOS-Kinderdörfer weltweit" in der Hauptstadt Kigali als Elektrotechniker geschult wurde, lernte er Mitschüler kennen, die ein ähnliches Schicksal hatten: Zwölf bewegende Erlebnisberichte nahm er in sein Buch auf, darunter die schrecklichen Erfahrungen einer 13-Jährigen, die gleich zweimal — unter blutenden Leichen verborgen — der Ermordung durch Hutu-Milizen entkommen war; ihre Familie überlebte die Massaker nicht.

Auch der Rechtsanwalt Eric Ndagijimana gehört zu denen, die als Kind die Massenmorde miterlebten: "Auf den Straßen lagen Tote. Mitschüler, die etwas zu essen holen wollten, sind nie mehr zurückgekommen." Seinem Sohn, eineinhalb Jahre alt, werde er davon erzählen, wenn er älter sei. "Die Regierung lehrt uns, einander zu vergeben und uns auf eine gemeinsame erfolgreiche Zukunft zu konzentrieren." So sehen es die meisten Befragten. Präsident Paul Kagame, bereits seit April 2000 im Amt, setzt dieses Programm mit harter Hand um und steht wegen der Verletzung von Menschenrechten und autoritären Verhaltens in der Kritik. Doch Ndagijimana ist sicher: "Er ist der richtige Mann, unser Land in dieser schwierigen Situation zu einen und voranzubringen."

Auch wenn der ruandische Staat die Versöhnung zwischen den Hutu und Tutsi in den Mittelpunkt stellt und dabei zunehmend Erfolge hat, hat der Genozid bis heute dramatische Auswirkungen auf das Land: Nach Angaben des Kinderhilfswerks Unicef gibt es in Ruanda 28.000 Kinderhaushalte; mehr als 100.000 Jungen und Mädchen wachsen ohne Eltern auf. Andere Quellen sprechen sogar von 300.000 bis 400.000 alleinlebenden Minderjährigen in einem Land, das insgesamt nur knapp zwölf Millionen Einwohner hat.

Dieudonné Gakire gehört zu den jungen Ruandern, die ein neues, friedliches Land aufbauen wollen: "Wir unterscheiden nicht mehr in Hutu oder Tutsi. So etwas darf sich nie mehr wiederholen", betont er. Sein Buch "Ein träumendes Kind", das in Englisch, Französisch und in der Landessprache Kinyarwanda erschienen ist, soll dazu eine Mahnung sein. Gakire besuchte vorher auch Gefängnisse und sprach mit den Mördern. "Einer hat mitleidlos 100 Menschen getötet. Ich hätte mir vorher gar nicht vorstellen können, dass so etwas möglich ist."

Mit seinem Buch wolle er den vielen ruandischen Waisenkindern eine Stimme geben, sagt Gakire. "Auch die Kinder der Mörder haben keine Väter mehr, weil sie jetzt lebenslänglich in Haft sitzen."

(mic)
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