Wahlen in Großbritannien Programmierte Staatskrise

London · An diesem Donnerstag wählt Großbritannien ein neues Parlament. Die Umfragen zeigen: Das Land steht vor einer Ausnahmesituation, die die Nation an ihre Grenzen bringen dürfte. Selbst wenn es für eine stabile Regierung reicht, wird es Streit über die Verfassung geben. Die Schlüsselrolle spielen die unbequemen Schotten.

 Der britische Premier David Cameron verlässt das Wahllokal. Er muss mit großen Verlusten rechnen.

Der britische Premier David Cameron verlässt das Wahllokal. Er muss mit großen Verlusten rechnen.

Foto: afp, JR

An diesem Donnerstag wird auf der Insel gewählt. Im Gegensatz zu früheren Jahrzehnten wird es den Umfragen zufolge für keine der beiden großen Parteien für eine absolute Mehrheit reichen. Weder die konservativen Tories von Premier David Cameron noch die oppositionelle Labour-Party unter Ed Miliband, den die gegnerische Presse "Red Ed" nennt.

Das ist für die Briten ein politisches Extrem. Dass Cameron schon bei seiner Regierungsbildung 2010 keine eigene Mehrheit hatte und auf eine Koalition mit den Liberaldemokraten angewiesen war, galt im Land als wahlpolitischer Unfall, Zumutung und Ausdruck von Schwäche. In Großbritannien gilt das Mehrheitswahlrecht. Wer seinen Wahlkreis gewinnt, hat das Mandat, wer unterliegt, bleibt draußen. Jahrzehntelang hat das für stabile Verhältnisse gesorgt. Entweder die eine große Partei hatte die Mehrzahl der Sitze und damit das Regierungsmandat oder die andere.

Und jetzt das. In den letzten Umfragen vor der Wahl lagen Labour und Tories mit 33 beziehungsweise 34 Prozent Kopf an Kopf. Zwar spiegeln sich diese Prozente im Parlament wegen des Wahlrechts gar nicht wieder, doch sehen die Mehrheitsverhältnisse auch beim Blick auf die 650 Wahlkreise nicht eben besser aus. Auch dann reicht es nicht. Dass der kommende Premier auf einen Koalitionspartner angewiesen sein wird, gilt als ausgemacht.

Daher dürften sich kleinere Parteien als Königsmacher entpuppen. Insbesondere die linksliberalen schottischen Nationalisten geraten dabei in den Fokus. Die Scottish National Party (SNP) nämlich steht wohl kurz davor, in ihrem Verbreitungsgebiet nahezu alle Mandate abzuräumen und damit das Parlament kräftig aufzumischen. Zuletzt lag die SNP bei 57 von 59 möglichen schottischen Sitzen.

Die in Schottland gefeierte Parteivorsitzende Nicola Sturgeon hat bereits klargestellt, dass sie Cameron und die Tories nicht unterstützen will. "Ich will nicht, dass David Cameron Premier bleibt", sagte sie einmal vor laufenden Kameras. Stattdessen bot sie Miliband ihre Unterstützung an — für eine Labour-Minderheitsregierung von schottischen Gnaden. Für Großbritannien ein Szenario, das bislang noch nicht einmal annähernd im Bereich des Vorstellbaren lag.

Lang anhaltende Diskussionen über die Verfassung dürften folgen. Dass die Schotten, die eigentlich die Loslösung aus dem Königreich anstreben, als drittstärkste Partei über die Position des Premiers wie auch Wohl und Wehe des ganzen Landes entscheiden, hat schon im Vorfeld eine Debatte losgetreten. Vielfach dreht sich die Diskussion um die Frage, auf welche Legitimität sich die neue Regierung stützen kann. Fast drei Viertel der englischen Wähler haben nach Umfragen ein Problem damit, dass eine Regierung mit Stimmen der klar separatistischen SNP über England regiert. Auch dass Miliband den Premier stellen könnte, obwohl seine Partei nicht das stärkste Ergebnis vorweisen kann, ist politisches Neuland.

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Bei unklaren Mehrheitsverhältnissen spricht vieles für aufreibende Wochen der Regierungsbildung. Schon die fünf Tage an Verhandlungen, die vor fünf Jahren Cameron benötigte, empfanden die Briten als Zumutung. Jetzt dürfte es deutlich länger dauern und weitaus komplizierter werden.

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Für Cameron wird es entscheidend sein, ob es am Ende für 290 Sitze reicht. Dann dürften die Tories eine Neuauflage mit den Liberaldemokraten anstreben. Aber selbst in diesem Fall steht der nächste Verfassungsstreit bereits auf der Agenda. Cameron nämlich hat seinen Wählern ein Referendum über den Verbleib in der EU versprochen. Wie das aber funktionieren soll, steht noch in den Sternen. Zudem würde ein EU-Referendum die Spaltung des Königreichs vertiefen. Eine Region ist besonders an Brüsseler Subventionen interessiert und daher asugesprochen EU-freundlich: Schottland.

(pst)
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