Frankreich vor der Wahl Der kranke Mann Europas

Düsseldorf (RP). Bisher hat sich Frankreich um Arbeitsmarktsreformen gedrückt. Folge: Allein ein Viertel der Jugendlichen ist arbeitslos und das Sozialsystem kaum mehr finanzierbar. Der Reformbedarf ist groß.

Die Ergebnisse der zwölf Kandidaten
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Für Stéphane Lollivier, Direktor der französischen Statistikbehörde Insee, war es eine peinliche Situation. Vor drei Wochen musste Frankreichs oberster Erbsenzähler eingestehen, dass seine Beamten ausgerechnet im Wahljahr die Arbeitslosenstatistik nicht rechtzeitig liefern können. Statt wie üblich im März soll sie erst im Herbst veröffentlicht werden. Prompt verdächtigte die linke Opposition die konservative Regierung einer Täuschung, um die Quote zu schönen. Statt bei 8,6 Prozent wie offiziell behauptet, liege die Erwerbslosigkeit in Wirklichkeit bei fast zehn Prozent.

Premierminister Dominique de Villepin protestierte erbost und pries seine Bilanz im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Anlass zum Stolz gibt es indes nicht. Denn selbst mit einer Quote von "nur" 8,6 Prozent schneidet Frankreich gemeinsam mit Spanien und Griechenland im europäischen Vergleich am schlechtesten ab. Besonders hoch ist die Jugendarbeitslosigkeit. 23 Prozent der Jugendlichen unter 25 Jahren sind ohne Job, in einigen Einwanderer-Ghettos, wo im Herbst 2005 nächtelang Autos brannten, kann diese Zahl sogar auf bis zu 50 Prozent klettern. Um den jungen Franzosen zu besseren Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verhelfen, wollte die Villepin-Regierung im Frühjahr 2006 den Kündigungsschutz für Berufseinsteiger lockern. Doch der Plan löste wochenlange Demonstrationen aus, die Villepin fast aus dem Amt gefegt hätten. Wieder wurde eine Reform beerdigt.

Dabei müsste gehandelt werden. Es geht Frankreich nicht gut. Das Außenhandelsdefizit hat im vergangenen Jahr mit knapp 30 Milliarden Euro Rekordniveau erreicht. Zwar konsumieren die Franzosen weiter munter drauf los, aber kaum noch Produkte "made in France" - die werden immer weniger hergestellt. In den vergangenen fünf Jahren sind in der französischen Industrie fast eine halbe Million Jobs verlorengegangen. Zwar hat ein Drittel der 100 größten europäischen Firmen seinen Sitz in Frankreich. Aber immer mehr Konzerne verlagern ihre Werke aus dem Land der 35-Stunden-Woche und hohen Sozialbeiträge in Billiglohnländer. Neue Stellen im Dienstleistungssektor können den Aderlass nicht ausgleichen.

Folge: Wegen zu geringer Beiträge ist die staatliche Krankenversicherung trotz verschiedener Versuche zur Kostendämpfung weiter tief in den roten Zahlen. Auch die 2003 beschlossene zaghafte Rentenreform, die das gesetzliche Rentenalter freilich bei 60 Jahren beließ, ist schon jetzt nicht mehr ausreichend. Nach Schweden hat Frankreich mit 54 Prozent die zweithöchste Staatsquote in Europa, obwohl die Verschuldung mittlerweile 64 Prozent des Bruttoinlandprodukts ausmacht. Der Staat lebt seit Jahren auf Pump, allein um das Heer der fünf Millionen Staatsdiener bezahlen zu können - jeder fünfte Franzose arbeitet im öffentlichen Dienst. Inzwischen fressen allein die Kreditzinsen für die Staatsschuld von 1142 Milliarden Euro den kompletten Ertrag der Einkommenssteuer.

"Der kranke Mann Europas", ätzte unlängst das britische Wirtschaftsmagazin "The Economist" über Frankreich. Die Stimmung ist womöglich noch schlechter als die Lage. In den französischen Buchhandlungen liegen stapelweise Analysen zum drohenden nationalen Untergang aus, die sich verkaufen wie warme Semmeln. Was nahe legt, dass die Franzosen bereit sind zum Neuanfang - theoretisch wenigstens.

Mit dem unbezahlbar gewordenen Sozialmodell ist es wohl bald vorbei. "Das Modell kann nicht überleben, wenn es nicht mit den Verhältnissen bei unseren engsten Partnern harmoniert", mahnte der Präsident des französischen Rechnungshofes, Philippe Séguin. Klartext: Frankreich soll sich die Reformpolitik der Nachbarn zum Vorbild nehmen, allen voran Deutschlands.

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