Frankreich geht es immer schlechter Die Illusion vom gallischen Dorf

Düsseldorf · Frankreich hätte eigentlich die besten Voraussetzungen, um zu prosperieren. Doch das Land bleibt dramatisch unter seinen Möglichkeiten, weil seine Eliten die Wirklichkeit zu gerne verdrängen.

Diese Parteien gibt es in Frankreich
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Im Périgord, dort, wo Frankreich noch ein wenig idyllischer ist als anderswo, haben sich in den letzten 20 Jahren viele Briten angesiedelt. Sie haben liebevoll alte Bauernhäuser restauriert, Weinkeller angelegt und eifrig Französisch gelernt. Und sie erzählen sich Witze. Einer geht so: "Gott erschuf die Welt. Doch kaum war er fertig, kamen die Engel und kritisierten sein Werk. Ein Land namens Frankreich, so klagten sie, sei bevorzugt worden — es sei schöner, besser gelegen und reicher als alle anderen. Das sei unfair. Gott sah ein, dass sie recht hatten. Und er erschuf die Franzosen."

Nur bissiger Humor oder tiefere Erkenntnis? Richtig ist: Frankreich hätte eigentlich die besten Voraussetzungen, um zu prosperieren. Immer noch ist es global die fünftgrößte Volkswirtschaft, der Pariser Börsenindex führt einige der profitabelsten und innovativsten Konzerne auf, in Branchen wie Nahrungsmittel, Luxus oder Pharma bleibt das Land führend. Seine Infrastruktur ist eine der besten der Welt, und wenigstens an den Elite-Unis arbeiten international renommierte Top-Forscher.

Bald noch hinter Italien und Spanien?

Trotzdem rutscht Frankreich immer tiefer in die Krise. Seit anderthalb Jahren steigt die Arbeitslosigkeit, die Staatsverschuldung hat die 90-Prozent-Latte längst gerissen, das Handelsbilanzdefizit hat gigantische Ausmaße angenommen, und eine Welle von Werksschließungen lässt ahnen, das das Schlimmste erst noch bevorsteht. Der Internationale Währungsfonds warnte jüngst davor, dass Frankreich sogar hinter die Krisenländer Italien und Spanien zurückfallen könnte.

Natürlich kam das alles nicht über Nacht. Frankreichs Probleme sind zum großen Teil hausgemacht, und sie sind bekannt: eine wuchernde Bürokratie und eine Staatsquote, die inzwischen bei rund 56 Prozent liegt. Ein verkrusteter Arbeitsmarkt und eine überregulierte Wirtschaft, die die höchsten Sozialabgaben Europas zu schultern hat und deswegen kaum noch Jobs schafft. Ein Schulsystem, das zunehmend Versager produziert. Das größte Problem aber ist eine politische Klasse, die dies alles am liebsten gar nicht zur Kenntnis nehmen würde.

Am besten die Globalisierung abschaffen

Viel lieber erzählen die Pariser Politiker dem Volk, wie einzigartig Frankreich doch sei. Wie überlegen seine Kultur. Wie unersetzlich sein "soziales Modell". Dann wird die "exception française" beschworen, jene angebliche Ausnahmestellung unter den Nationen , die es zu verteidigen gelte. Nicht wir müssen uns ändern, sondern gefälligst die anderen — diese schöne Illusion vom unbesiegbaren gallischen Dorf ist immer noch weit verbreitet. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Franzosen würde sich in diesen stürmischen Zeiten gerne hinter hohen Zoll-Palisaden verschanzen oder am liebsten gleich die gesamte Globalisierung rückgängig machen.

Aber auch jene, die es eigentlich besser wissen müssten — Frankreichs an den renommierten Grandes Ecoles geschliffenen politischen Eliten, haben weiterhin Mühe, die ökonomischen Realitäten anzuerkennen. Lieber wird "wirtschaftlicher Patriotismus" beschworen, nach dessen Lesart Stellenabbau und — schlimmer noch — Produktionsverlagerungen ins Ausland als Verrat an den vitalen Interessen der Nation gelten. Gerade erst hat Arnaud Montebourg, französischer "Minister für die Wiederaufrichtung der Produktion", dem Stahlkonzern Arcelor-Mittal mit der Verstaatlichung eines Werks gedroht, weil das Unternehmen einen Teil der Anlage stilllegen wollte.

Für manche ist Deutschland schuld an der Misere

Montebourg ist Sozialist wie einst Staatspräsident François Mitterrand. Aber der Hang zur massiven Einmischung in die Wirtschaft ist kein Privileg der französischen Linken. Und auch nicht die Neigung, die eigenen Versäumnisse unter den Teppich zu kehren. Ausgerechnet IWF-Chefin Christine Lagarde, die ihrem Heimatland soeben ein verheerendes ökonomisches Zeugnis ausgestellt hat, hatte einst als Finanzministerin unter Hollandes konservativem Vorgänger Nicolas Sarkozy den französischen Wirtschaftskurs verteidigt.

Nicht Frankreich sei schuld an der Misere, sondern Deutschland, das mit brutaler Sparpolitik seine Exportwirtschaft zum Nachteil Frankreichs gedopt habe. Lagarde empfahl allen Ernstes, Deutschland solle doch bitteschön seine Wettbewerbsfähigkeit drosseln, damit Frankreich wieder aufschließen könne. Solche Vorschläge spiegeln die ganze Ratlosigkeit angesichts einer dramatischen Verschiebung im ökonomischen Kräfteverhältnis zwischen Deutschland und Frankreich.

Essentielle Reformen versäumt

Ende der 90er Jahre bejubelte Frankreich nicht nur den Sieg bei der Fußball-WM 1998, es stand auch besser da als der große Nachbar im Osten. Die Lohnstückkosten lagen deutlich unter denen in Deutschland, und Frankreich verzeichnete ein sattes Leistungsbilanzplus. Doch dann führte der sozialistische Premier Lionel Jospin die 35-Stunden-Woche ein, und der konservative Präsident Jacques Chirac stoppte nach massiven Streiks im öffentlichen Dienst alle Bemühungen um eine Renten- und Arbeitsmarktreform, während in Deutschland Gerhard Schröders Agenda 2010 gestartet wurde.

Heute, so haben Experten ausgerechnet, müsste Frankreich bei Arbeitsproduktivität und Löhnen eine "innere Abwertung" von 20 Prozent vornehmen, um wirtschaftlich wieder auf Augenhöhe mit Deutschland zu sein. Das kann nicht gelingen ohne Opfer. Aber das wagt noch niemand in aller Schärfe auszusprechen.

Hollande fehlt der Mut

Präsident Hollande räumt inzwischen ein, dass Frankreich ein Problem hat. Er hat höhere Steuern angekündigt und ein paar Sparmaßnahmen. Die Unternehmen sollen entlastet werden, der Mittelstand gefördert. Doch um Frankreichs heilige Kühe anzutasten, den aufgeblähten Staatsapparat zurechtzustutzen, die Sozialleistungen zu kürzen oder die Arbeitszeiten infrage zu stellen, fehlt ihm der Mut.

Dabei haben viele Franzosen längst begriffen, dass etwas geschehen muss. Zwar haben sie Angst vor dem Wandel, aber noch mehr Sorge bereitet ihnen der mit dynamisch klingenden Parolen kaschierte Immobilismus an der Staatsspitze. "Nicht jeder ist eben ein Gerhard Schröder", ätzte das den Sozialisten eigentlich zugetane Leitblatt der Pariser Elite, "Le Monde". In den Popularitätswerten ist Hollande schneller abgestürzt als je ein Präsident in der Fünften Republik. Aber vielleicht ringt er sich ja gerade deswegen noch zu den nötigen Reformen durch. Frankreich hat dafür die nötigen Ressourcen. Noch.

(RP/pst/csi)
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