Analyse zu Demonstrationen in Kiew Die Opposition in der Ukraine überschätzt sich

Kiew · Die Demonstranten in Kiew fordern den Rücktritt der Regierung. Am Sonntag zertrümmerten sie ein Lenin-Denkmal. Dies erinnert an die Orange Revolution 2004. Doch die Situation ist diesmal viel gefährlicher. Die Opposition überschätzt sich. Zudem ranken sich um Vitali Klitschko irritierende Gerüchte.

 Wird Vitali Klitschko von einem Gas-Oligarchen finanziert? Um den Box-Weltmeister ranken sich Gerüchte.

Wird Vitali Klitschko von einem Gas-Oligarchen finanziert? Um den Box-Weltmeister ranken sich Gerüchte.

Foto: dpa, Anatoly Maltsev

In diesen Tagen der Massenproteste schwirren viele Gerüchte durch Kiew. Eines von ihnen besagt, Präsident Viktor Janukowitsch habe sich mit Kremlchef Wladimir Putin auf einen Deal geeinigt: 15 Milliarden Dollar Sofortkredit aus Moskau und das russische Gas zum halben Preis. Ein anderes lautet, Janukowitsch werde am 17. Dezember den Beitritt zur Zollunion mit Russland unterzeichnen. Und das dritte: Die ukrainische Regierung plane, den Ausnahmezustand zu verhängen und die Demonstrationen gewaltsam aufzulösen.

Demonstranten zerstören Lenin-Statue in Kiew
13 Bilder

Demonstranten zerstören Lenin-Statue in Kiew

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Welchen Wahrheitsgehalt diese Munkeleien auch immer haben: Sie zeigen, wie explosiv die Lage in der Ukraine ist. Die plötzliche Entscheidung Janukowitschs, die Annäherung an die EU zu stoppen und sich Russland zuzuwenden, hat anhaltenden Widerstand der Bevölkerung ausgelöst. Auch an diesem Sonntag protestierten wieder mehrere hunderttausend Menschen im Zentrum von Kiew. Sie errichteten Barrikaden vor dem Parlament, dem Regierungsgebäude und der Präsidialadministration. Die Demonstranten forderten die Rückkehr zu einem pro-europäischen Kurs, Freiheit für Julia Timoschenko und den Rücktritt von Präsident Janukowitsch.

Die Bilder erinnern an 2004

Die Bilder ähneln denen der Orangenen Revolution im Dezember 2004. Auch damals trotzten Demonstranten wochenlang Eis und Schnee, auch damals wurden dieselben Gebäude blockiert, auch damals hieß der Buhmann Viktor Janukowitsch. Und doch ist die Situation heute eine ganz andere. Vor allem ist sie viel gefährlicher. Das liegt daran, dass das Regierungslager heute stärker ist als 2004 — und die Opposition schwächer. Somit könnte das Ergebnis eines längeren Konflikts diesmal nicht der friedliche Sieg des Widerstands sein, sondern der gewaltsame Triumph der Macht.

Doch was wollen beide Seiten überhaupt? Bei Präsident Viktor Janukowitsch ist diese Frage schwer zu beantworten. Im Stadtzentrum von Kiew hängen bis heute riesige Reklametafeln für die Annäherung der Ukraine an die EU. Das war Janukowitschs Kurs bis vor wenigen Wochen. Ein Assoziierungsabkommen mit dem Staatenbund war fertig ausgehandelt und sollte beim EU-Gipfel in Vilnius unterzeichnet werden. Es fehlten noch ein paar Kleinigkeiten. Zum Beispiel ein Gesetz, dass der in Haft erkrankten Oppositionsführerin Julia Timoschenko eine Behandlung im Ausland ermöglicht hätte. Doch dann riss Janukowitsch plötzlich das Ruder herum — unter Druck aus Moskau. Der Kreml möchte die Ukraine gerne in seine Zollunion zwingen, drohte mit allerlei Schikanen und lockte mit Milliarden.

Janukowitsch, der Mann mit der Gauner-Mentalität

Janukowitsch, der in der Sowjetzeit wegen krimineller Delikte im Gefängnis saß, hat seine Gauner-Mentalität nie abgelegt. In den vergangenen dreieinhalb Jahren seiner Präsidentschaft sind seine Söhne und seine Freunde sagenhaft reich geworden. Das Land dagegen verarmte weiter. Wie in allen Kleptokratien braucht nun auch in der Ukraine der Präsident den Machterhalt um jeden Preis: Andernfalls muss er juristische Konsequenzen fürchten. Janukowitsch weiß: Mit den Milliarden aus Moskau kann er die Wahl 2015 leichter gewinnen als mit vergleichsweise kümmerlichen 610 Millionen Euro von der EU, über deren Verbleib Brüssel auch noch Rechenschaft fordern wird.

Das Kalkül des Machterhalts hat das Regime brutalisiert. Szenen von systematischer Polizeigewalt, wie sie sich am 30. November abspielten, hat die Ukraine selbst während der Orangen Revolution nicht gesehen. Als eine Woche später eine halbe Million Menschen auf die Straße ging, schickte man die im postsowjetischen Raum beliebten agentes provocateurs an die Front: Durchtrainierte junge Männer steuerten einen Bulldozer auf die Bereitschaftspolizei zu. Aktionen wie diese lassen viele befürchten, dass Janukowitsch am Ende doch entscheiden wird, die Demonstranten niederzuknüppeln.

Unrealistischer Maximalismus

Doch auch der unrealistische Maximalismus der Opposition ist gefährlich. Der eigentliche Anlass der Proteste — die Abkehr vom pro-europäischen Kurs — scheint fast in den Hintergrund gerückt. Die Opposition fordert nun den Rücktritt der Regierung und Janukowitschs sowie Neuwahlen des Parlaments und des Staatsoberhaupts. Das ist ziemlich viel für eine Bewegung, der eine charismatische Führungspersönlichkeit fehlt, wie es Julia Timoschenko 2004 war.

Die EU wiederum, für die Beschleunigung des Konflikts mitverantwortlich, hat sich zu lange zu passiv verhalten. Erst jetzt fliegt die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton nach Kiew, erst jetzt telefoniert EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso mit Viktor Janukowitsch. Derweil versuchen konservative Kräfte innerhalb der EU, dem Oppositionsführer Vitali Klitschko Schützenhilfe zu leisten. Nach einem Bericht des "Spiegel" wollen Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Gruppe der konservativen Parteien in der EU (EVP) Klitschko durch gemeinsame Auftritte in der Öffentlichkeit mehr Profil verschaffen.

Brisante Personalie

Klitschko bekennt sich zu europäischen Werten. Er hat selbst jahrelang in Hamburg gelebt, spricht gut Deutsch und Englisch. Als Sohn eines Sowjetmilitärs ist der 41-Jährige auch nicht betont anti-russisch — das macht ihn akzeptabel im Osten und Süden des Landes. Wie die oppositionelle "Ukrainska Prawda" schreibt, soll Klitschko allerdings von dem Gas-Oligarchen Dmitri Firtasch und seinem Geschäftspartner Sergej Ljowotschkin finanziert werden.

Brisant dabei: Ljowotschkin diente bis vor wenigen Tagen als Chef von Janukowitschs Präsidialadministration. Angeblich soll er Klitschko unterstützen, weil er sich über die wachsende Konkurrenz durch Janukowitschs Söhne ärgert. Aber das ist wieder nur eines von den vielen Gerüchten in Kiew.

(RP)
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