Unabhängigkeitsbestrebungen in Europa Die Separatisten kommen voran

Brüssel/Madrid · In Belgien, Großbritannien und Spanien streben ganze Regionen nach Unabhängigkeit. Bestimmendes Motiv ist meist die Unlust, den eigenen Wohlstand mit dem Rest des Landes zu teilen.

Beispiel Katalonien – Unabhängigkeitsbestrebungen in Europa
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Unabhängigkeitsbestrebungen in Europa

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Foto: ap, EM

Es war der Siegeszug eines Triumphators: Nach seinem Erdrutsch-Erfolg bei den Kommunalwahlen in Belgien zog Separatist Bart De Wever mit seinen Anhängern durch die Straßen von Antwerpen. Knapp 38 Prozent holte er in der prosperierenden Hafen-Metropole, die seit 80 Jahren fest in der Hand der Sozialisten war.

Die Farben der Nationalisten von Nieuw-Vlaamse Alliantie (NV-A) bestimmten nicht nur in Antwerpen das Bild. In 46 flämischen Städten und Gemeinden wurden die Separatisten von der N-VA stärkste Kraft. Ihr Erfolg im Norden erschüttert ganz Belgien. Denn die Teilung des Landes rückt damit wieder auf die Agenda. "Ein Schritt weiter" titelte die Zeitung "Le Soir" gestern. Darunter zeigte sie eine Karikatur von Bart De Wever — wie er mit Volldampf auf ein Ziel namens "Unabhängigkeit Flanderns" zusprintet.

Gleich nach seinem Erfolg forderte der N-VA-Chef Ministerpräsident Elio Di Rupo auf, das Land gemeinsam mit ihm in eine Konföderation umzubauen. Der Grund: Die gerade beschlossene Staatsreform sei von den Interessen des frankophonen Südens bestimmt, der die Landsleute im reicheren niederländischsprachigen Norden als "Melkkühe" missbrauche. Nun fürchten viele Belgier, dass spätestens die Parlamentswahl 2014 zum Votum über das Ende des Föderalstaates wird. Denn De Wevers erklärtes Ziel ist ein autonomes Flandern.

Schotten stimmen im Herbst 2014 ab

Nicht nur im kleinen EU-Gründerland sind die "Spalter" auf dem Vormarsch. Schottland soll im Herbst 2014 über seine Unabhängigkeit abstimmen. Großbritanniens Premier David Cameron gab am Montag grünes Licht für ein Referendum. Auch der katalanische Ministerpräsident Artur Mas will seine Landsleute über ihre Autonomie abstimmen lassen. Im Baskenland dürften bei den Wahlen am 21. Oktober die Separatisten der Nationalpartei PNV von Iñigo Urkullu zu den großen Gewinnern zählen.

Immer geht es um politische Selbstbestimmung, regionale Identität und Wohlstand. Die Schuldenkrise verstärkt diesen Trend zur Entsolidarisierung. Auf sechs bis acht Milliarden Euro beziffern nationalistische Politiker das "Fiskaldefizit" in Katalonien. Sie meinen damit die Differenz aus den Steuermitteln, die in der Region erhoben werden, und allen öffentlichen Leistungen, die der Staat dort erbringt (Gesundheitssystem, Infrastruktur).

Wenn Kataloniens Beitrag zum gemeinsamen Staat höher ist als der anderer Regionen, liegt das vor allem daran, dass die Region schlicht deutlich reicher ist. Auf den Straßen von Tarragona, Barcelona oder Girona hingegen ist von der "Plünderung" durch Spanien die Rede. Ministerpräsident Mas hat sich an die Spitze dieser separatistischen Bewegung gesetzt und will damit am 21. November die Regionalwahlen erneut gewinnen.

Dann werde er ein Referendum über die Unabhängigkeit ansetzen. Die Frage solle sein: "Sind Sie damit einverstanden, dass Katalonien ein eigener Staat innerhalb der EU sein wird?" Dass ein solches Referendum verfassungswidrig wäre, stört den Politiker nicht.

Die Wallonen kosten jeden Flamen angeblich 900 Euro im Jahr, heißt die populistische Faustformel der Separatisten in Belgiens Norden. Die Schotten wollen nicht länger hinnehmen, dass die Milliarden-Steuereinnahmen aus Förderung und Verarbeitung des Nordsee-Öls vor ihrer Küste nach London fließen. Außerdem passt ihnen der Anti-Europakurs der Regierung in London nicht. Das Pfund würden sie gerne durch den Euro ersetzen.

Brok: Regionaler Zerfall Gift für Europa

Die Spalter eint die Vision mächtiger Regionen in einem starken Europa. Wenn es nach Bart De Wever geht, "verdampft" die föderale Ebene. Der Nationalstaat gibt Kompetenzen nach oben an die EU und nach unten an die Region ab. Die Außen- und Verteidigungspolitik will De Wever am liebsten Brüssel überlassen, Steuer- und Sozialpolitik sollen regional gemacht werden.

Die EU packt angesichts der neuen "Freunde" Unbehagen. "Spaltungstendenzen in den Mitgliedsstaaten verursacht durch separatistische Bewegungen sehe ich mit großer Besorgnis — gerade in Krisenzeiten", sagt Martin Schulz (SPD), Präsident des Europaparlaments. "Regionaler Zerfall ist Gift für Europa", meint Elmar Brok (CDU), Chef des Auswärtigen Ausschusses im Europaparlament.

Die EU steht durch die größte Krise seit iher Gründung mehr denn je vor einer Zerreißprobe. Da will sie nicht auch noch Regionalkonflikte importieren, die sie handlungsunfähig machen würden. Denn in wichtigen Fragen herrscht Einstimmigkeit — sprich, jedes Mitgliedsland hat ein Vetorecht.

Zudem rechnen sich einige Spalter die Unabhängigkeit auch auf falscher Grundlage schön. So übersehen die flämischen Nationalisten gerne, dass Flandern einen Großteil der belgischen Staatsschuld von gut 100 Prozent der Wirtschaftsleistung bei einer Teilung tragen müsste.

Außerdem kalkulieren sie selbstverständlich die ökonomische Kraft Brüssels als Flanderns Hauptstadt mit ein. Klar ist aber: Sollte Belgien zerfallen, bekäme die EU-Metropole wohl einen ähnlichen Status wie die US-Haupstadt Washington, die als District of Columbia (poetischer Name für die USA) keinem Bundesstaat angehört.

(RP/das/sap)
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