Analyse zu den Unruhen Die Wurzeln der Londoner Anarchie

London (RPO). Tottenham, Hackney, Peckham, Croydon. Die Liste der von einer beispiellosen Gewaltwelle betroffenen Bezirke Londons liest sich wie ein Kapitelverzeichnis aus einem Handbuch über die sozialen Brennpunkte der Hauptstadt.

Dritte Nacht in Folge Ausschreitungen in London
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Dritte Nacht in Folge Ausschreitungen in London

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Das heruntergekommene Tottenham war Schauplatz von brutaler Straßengewalt 1985, es gehört zu den zehn Wahlbezirken mit der höchsten Arbeitslosenquote in ganz England. Hackney, wo 60 Prozent der Einwohner in Sozialwohnungen leben, sticht durch seine niedrige Lebenserwartung und die hohe Kinderarmut (44 Prozent) hervor.

Hier und in Peckham wurden in den vergangenen Jahren mehrere Teenager auf offener Straße erstochen, wobei der letztere Stadtteil die Londoner Statistik der Messer-Kriminalität anführt.In Croydon, dessen Einwohner 100 verschiedene Sprachen sprechen, gab es 2010 mit Abstand die meisten Schulverweise Londons wegen Straftaten und Disziplinprobleme.

Armut, Drogen, Arbeitslosigkeit

Das ist die naheliegende Erklärung der Gewalt: London ist nicht nur die faszinierendste multikulturelle Drehscheibe der westlichen Welt, sondern auch eine Stadt mit dunklen Seiten und gewaltigen Kontrasten. Während die City boomt, während die durchschnittlichen Hauspreise von 6,4 Millionen Pfund in Kensington die Vorstellungskraft sprengen, lassen Armut, Drogen, Arbeitslosigkeit und niedrige Bildungs- und Lebensstandards unter der Oberfläche dort die sozialen Spannungen brodeln, wo die Sozialdienste ohnehin extrem überfordert sind und wo die Polizei keinen guten Ruf genießt.

Die Situation wird verschärft durch empfindliche Kürzungen in den Gemeindehaushalten auf Kosten der Jugendarbeit und den Stellenabbau bei den Sicherheitskräften. Ein Funke genügt also und die armen Viertel fangen unweigerlich an, zu brennen? Nein. So wichtig die sozialen Probleme sind, die Londoner Anarchie lässt sich nur damit alleine wohl nicht erklären. Eine schlüssige Erklärung fehlt bislang. Klar ist nur, dass zahlreiche andere Faktoren eine wichtige Rolle gespielt haben müssen.

Nur um ein paar zu benennen: Die englischen Anarchisten und Hobby-Randalierer haben in den vergangenen Jahren mehrmals den Aufstand gegen die Behörden geprobt. Bei den außer Kontrolle geratenen Londoner Jugendprotesten im Herbst gegen die Universitätsreform sahen zuletzt alle, dass es möglich ist, die Polizei zu überlisten und Chaos zu stiften. Andererseits dürfte die Londoner Unterwelt auf diese Gelegenheit gewartet haben. Am Montag verdichteten sich die Hinweise darauf, dass sich mehrere Banden bei den Straßenkämpfen gegen die Polizei zeitweise verbündet hatten.

Verlierer sind die Menschen in London

Die Sicherheitskräfte scheinen dagegen manche dringenden Warnhinweise aus den betroffenen Gemeinden ignoriert und zu zögerlich auf die ersten Anzeichen der Gewalt reagiert zu haben. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass der Scotland Yard nach den Rücktritten in Murdochs Lauschaffäre gerade führungslos ist. Sicher werden bald andere Ursachen der Krawalle analysiert und benannt werden. Heute sind die Politiker vor allem damit beschäftigt, um ihre Haut zu retten.

Der Premier David Cameron und der Bürgermeister Boris Johnson sind nach drei Krawallnächten eilig aus den Ferien im Ausland nach London zurückgekehrt. Beide müssen sich längere Untätigkeit vorwerfen lassen und größeren Imageschaden befürchten. Geht die Gewalt unvermindert weiter, dürften Johnsons Chancen auf die Wiederwahl 2012 sinken. Cameron steht wohl eine Revision seiner kontroversen Sozialpolitik bevor.

Die großen Verlierer sind bislang die Menschen in London. Manche haben durch die Krawalle ihre Wohnungen und Jobs verloren. Anderen steht womöglich der Abschied vom schönen Mythos des sicheren und toleranten Multi-Kulti-Schmelztiegels bevor. "London's burning!” der 79er Song von Clash hat leider eine neue Bedeutung bekommen. Die seit Samstag gerissenen Wunden in den Seelen der Hauptstadtbewohner sind so tief, dass sie möglicherweise nicht rechtzeitig zum Beginn der Olympischen Spielen in knapp einem Jahr heilen werden.

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