Populisten haben in Europa Zulauf Die Zeit der Brandstifter ist gekommen

Brüssel · Wenn Alexis Tsipras lächelt, wirkt er wie Schwiegermutters smarter Liebling. Sobald der griechische Linksradikale redet, ist es mit der Harmlosigkeit vorbei. Jüngst verglich er das Verhältnis seines Landes zur EU mit dem Kalten Krieg. Beide Seiten säßen mit dem Finger am roten Knopf der Atombombe: Europa drohte mit dem Stopp der Hilfszahlungen, Athen damit, den Schuldendienst einzustellen.

Europas Populisten
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Die EU ist für den 37-Jährigen nicht Partner, sondern Gegner. Tsipras verspricht den Griechen, sie vom unbeliebten "Sparjoch" der Geldgeber zu befreien. Dieser Kurs könnte dem Chef der Syriza einen Sieg bei den Neuwahlen am 17. Juni bringen – auch wenn die Einlösung seiner Wahlversprechen Griechenlands Pleite und Gefahr für den Euro bedeuten würde.

Nicht nur vom linken Rand droht Unheil. Hellas finanzieller Überlebenskampf hat auch die Neonazi-Partei "Goldene Morgenröte" salonfähig gemacht. Ausgerechnet in einem Land, das bis heute stolz darauf ist, starken Widerstand gegen Hitlers Truppen geleistet zu haben.

Griechenland ist kein Einzelfall. "Extremisten und Populisten vom linken wie rechten Rand sind europaweit die Gewinner der Krise. Das ist eine völlig unterschätzte Gefahr für die Einheit und Grundwerte der EU", warnt Alexander Alvaro (FDP), Vizepräsident des Europaparlaments.

Abschottung als Allheilmittel

Die Schulden-Misere bietet den politischen Brandstiftern reichlich Zündstoff. Gut zwei Jahre nach Ausbruch der Krise ist trotz aller Milliarden-Rettungsschirme kein Ende in Sicht. Im Gegenteil: Rezession, Rekordarbeitslosigkeit und Wohlstandsverlust erfassen immer mehr EU-Länder.

Während die EU-Lenker in Brüssel "mehr Europa" predigen, wählen ihre Bürger daheim Parteien, die auf Nationalismus, Abschottung und Entsolidarisierung als Allheil-Mittel setzen. Sie punkten bei den Unzufriedenen, weil sie gegen die Unfähigkeit der etablierten Parteien zu Felde ziehen und vermeintlich einfache Lösungen für allzu komplexe Probleme versprechen. "Die Regierungschefs befördern diesen Trend, indem sie immer öfter nationale Befindlichkeiten über europäische stellen und die Union auseinanderdividieren", kritisiert Alvaro.

Auch Europas Kern ist infiziert

In rund einem Drittel der Mitgliedsstaaten fegte die Krise Regierungen weg. In 14 der 27 EU-Länder sitzen extreme Kräfte, die Anti-Europa-Parolen verbreiten, in der Volksvertretung – darunter Finnland, die Niederlande, Belgien, Österreich, Italien, Ungarn. Immer öfter gelangen sie an die Schalthebel der Macht oder zwingen den etablierten Parteien ihren Kurs auf.

Selbst vor den Kernländern der Union macht der Aufstieg der Polarisierer nicht halt. In Frankreich etwa holten die Rechtsradikalen von Marine Le Pen und die Linkspopulisten von Jean-Luc Mélenchon (60) in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen rund ein Drittel der Wählerstimmen. Ihre Gemeinsamkeit: Europa-Skepsis.

Le Pen feiert große Erfolge

In der ersten Runde der Parlamentswahlen legte Le Pens Front National zum Erschrecken der Etablierten noch weiter zu: Sie holte landesweit 13,6 Prozent - mehr als doppelt so viel wie die Grünen und Mélanchons extremes Linksbündnis Front de Gauche. Die Radikalen jubilieren und strotzen angesichts solcher Erfolge vor Selbstbewusstsein. Marine Le Pen feiert ihre Partei als die "drittgrößte politische Kraft des Landes" und macht sich Hoffnungen, die konservative UMP spalten und an ihre Stelle treten zu können.

In den Niederlanden zieht Emile Roemer (49) mit Marx gegen freie Märkte und die EU zu Felde. Er könnte damit bei den Neuwahlen im September der erste linkssozialistische Regierungschef Hollands werden. Seine Partei SP liegt in Umfragen nur knapp hinter den Liberalen von Premier Mark Rutte.

Frühwarnsystem in Arbeit

Rechtspopulist Geert Wilders stürzte dessen Minderheitsregierung, weil er die schwarz-gelbe Spar- und Krisenpolitik in Sachen Euro nicht mittragen wollte. Nun will er mit einem Anti-EU-Wahlkampf punkten. 2005 kämpften Links- und Rechtspopulisten in Holland schon einmal erfolgreich gegen mehr europäische Einigung. Das Ergebnis: die Niederländer kippten per Volksabstimmung die EU-Verfassung.

Alvaro findet es ist "höchste Zeit" gegen den Boom der Radikalen in Europa vorzugehen – auch unter Einbindung der EU-Polizeibehörde Europol. Der Parlamentsvize arbeitet an einem Frühwarnsystem.

Nazi-Terror in Weißrussland und Ungarn

Denn immer öfter entlade sich der Extremismus auch "in offener Diskriminierung, Gewalt und Terror". So suchte jüngst eine Studentin aus dem polnischen Bialystok seine Hilfe. Sie beklagte, die Stadt nahe der weißrussischen Grenze werde von Neonazis tyrannisiert. Auch Ungarns Rechtsradikale werden immer selbstbewusster, betreiben eine völkisch-nationalistischen Renaissance. Mit Zeremonien, Statuen und Gedenktafeln feiern sie den antisemitischen Reichsverweser Miklós Horthy. Der war mitverantwortlich für die Deportation von 400.000 ungarischen Juden, die in Auschwitz getötet wurden.

Hinter dem neuen Kult stehen auch Parteifreunde von Regierungschef Viktor Orbán. "Populisten und Extremisten sind eine ernste Bedrohung für die Errungenschaften der europäischen Einigung", meint Alvaro.

Das Vertrauen erodiert

Während die Staats- und Regierungschefs verzweifelt den Euro durch eine politische Union stabilisieren wollen, erodiert an der Basis die Akzeptanz für eine vertiefte Integration und mehr Souveräntitätsverzicht. "Die wahre Tiefe der Vertrauenskrise wird geleugnet", warnt der Parlaments-Vizepräsident. Spätestens bei der Europa-Wahl 2014 drohe ein "böses Erwachen".

Möglicherweise auch in Deutschland. Denn dort hat das Bundesverfassungsgericht die Fünf-Prozent-Hürde gekippt. Das heißt: Radikale und Populisten haben es leichter, mit Anti-EU-Parolen auf Stimmenfang zu gehen. Zudem versuchen die Extremisten zunehmend, sich europäisch zu vernetzen. Bisher mit mäßigen Erfolg. "Wenn es gelingt, dann sieht es düster aus für Europa", prophezeit Alvaro.

(RP/pst/sap)
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