Zehntausende erinnern an Putschversuch Die Türkei am Tag ein Jahr danach

Istanbul · Mit viel Pathos erinnert die Türkei an den gescheiterten Putsch vor einem Jahr. Zehntausende zogen zu einer der Bosporus-Brücken in Istanbul. In der Nacht will Präsident Erdogan sprechen. Zuvor wurden wieder tausende Staatsbedienstete entlassen.

Zehntausende Türken waren am Samstagabend zu einer der Bosporus-Brücken in Istanbul gekommen.

Zehntausende Türken waren am Samstagabend zu einer der Bosporus-Brücken in Istanbul gekommen.

Foto: afp, OZN

Am Samstagabend versammelten sich in Istanbul mehrere zehntausend Menschen. Mit türkischen Flaggen zogen sie zu einer der Brücken über den Bosporus, wo am späten Abend ein Denkmal für die Opfer des Putschversuchs eingeweiht werden soll.

Präsident Recep Tayyip Erdogan traf in Istanbul ein, um an der Zeremonie teilzunehmen. Zuvor hatte er einer Sondersitzung des Parlaments in Ankara beigewohnt.

 Ein Mann trägt Flaggen mit dem Konterfei des türkischen Präsidenten Erdogan zu einer der Bosporus-Brücken in Istanbul.

Ein Mann trägt Flaggen mit dem Konterfei des türkischen Präsidenten Erdogan zu einer der Bosporus-Brücken in Istanbul.

Foto: afp, OZN

Auf der Brücke hatten bei dem Putschversuch besonders blutige Kämpfe stattgefunden. Zu Ehren der Opfer wurde sie inzwischen umbenannt in "Brücke der Märtyrer des 15. Juli". Auch in anderen türkischen Städten versammelten sich am Abend viele tausend Menschen. Die Regierung hatte sie aufgerufen, zu "Demokratiewachen" auf die Straße zu kommen.

Das Parlament in Ankara kam am Samstag zu einer Sondersitzung zusammen, bei der die "Märtyrer und Helden" der Putschnacht vom 15. Juli 2016 gewürdigt wurden. "Es ist ein Jahr her, dass aus der dunkelsten Nacht die Nacht der Helden wurde", sagte Regierungschef Binali Yildirim bei seiner Ansprache vor den Abgeordneten in Ankara. Er bezeichnete die Putschnacht als einen siegreichen "zweiten Unabhängigkeitskrieg" und bezog sich damit auf den Krieg nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs, aus dem 1923 die Türkische Republik hervorgegangen war.

Zu seinen Zuhörern im Parlament gehörte auch Präsident Erdogan, den eine Gruppe von Militärs im vergangenen Jahr zu stürzen versucht hatte. Er saß während der Ansprachen mit versteinertem Blick auf einem Platz in den Rängen.

Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu warf der Regierung "Behinderungen" bei der Aufarbeitung der Putschnacht vor. "Über das vergangene Jahr hinweg haben sich alle Rechtsabläufe immer weiter vom gesetzlichen Rahmen entfernt", sagte er mit Blick auf den bis heute andauernden Ausnahmezustand in der Türkei.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg verurteilte jeden Versuch zur Schwächung der Demokratie in den Mitgliedsländern als inakzeptabel. Stoltenberg erinnerte am Samstag in Brüssel an die rund 250 Menschen, die der vereitelte Umsturz das Leben kostete und lobte die Bürger, die zur Verteidigung ihrer gewählten Regierung auf die Straße gegangen seien.

 Präsident Erdogan bei einer Gedenkveranstaltung in der Türkei.

Präsident Erdogan bei einer Gedenkveranstaltung in der Türkei.

Foto: rtr, UB/ /KV

Im Zuge der Notverordnungen griff die Regierung mit aller Härte gegen ihre Kritiker und politischen Gegner durch. Mehr als 50.000 Menschen wurden seit der Putschnacht in der Türkei inhaftiert, mehr als 100.000 Staatsbedienstete entlassen oder vom Dienst suspendiert. Noch am Freitag wurden erneut tausende Staatsbedienstete entlassen. Betroffen sind neben tausenden Militärs, Polizisten, Staatsanwälten und Richtern auch kurdische Oppositionelle, kritische Journalisten und unabhängige Wissenschaftler.

Die Vorwürfe Kilicdaroglus gegen die Regierung fielen vergleichsweise milde aus, da Opposition und Regierung für den Gedenktag einen Burgfrieden geschlossen hatten. Erdogan will in der Nacht (22.30 Uhr deutscher Zeit) an einer Bosporus-Brücke in Istanbul ein Denkmal für die 249 Opfer des Putschversuchs enthüllen.

Nach Mitternacht will anschließend Erdogan selbst im Parlament reden; die Rede soll um 01.32 Uhr deutscher Zeit beginnen - exakt zu jenem Zeitpunkt, zu dem vor einem Jahr das Parlament von den Putschisten bombardiert wurde.

Zuvor hat Erdogan am Abend seine Bereitschaft zur Wiedereinführung der Todesstrafe bekräftigt. Er würde ein entsprechendes Gesetz unterschreiben, wenn das Parlament es verabschieden würde, sagte er bei einer Gedenkveranstaltung. Zuvor hatte die Menge in Sprechchören die Wiedereinführung der Todesstrafe verlangt.

Erdogan hatte einen solchen Schritt in der Vergangenheit mehrfach ins Gespräch gebracht. Kurz nach seinem Sieg beim Verfassungsreferendum vor drei Monaten war das Thema aber wieder von der Tagesordnung verschwunden.

Am Abend des 15. Juli 2016 hatte eine Gruppe Militärs versucht, die Macht in der Türkei an sich zu reißen. Sie besetzten Straßen und Brücken und bombardierten das Parlament und den Präsidentenpalast, doch scheiterte der Umsturzversuch am Widerstand der Bevölkerung. Dass der Putsch vereitelt wurde, wertet die türkische Regierung als einen historischen Sieg der Demokratie.

Erdogan machte damals umgehend den islamischen Prediger Fethullah Gülen für den Umsturzversuch verantwortlich. Der in den USA lebende Geistliche bestreitet jede Verwicklung, doch zweifelt auch die Opposition nicht, dass Gülen-Anhänger hinter dem versuchten Staatsstreich standen. Sie wirft aber Erdogan vor, den Putschversuch als Vorwand genutzt zu haben, um gegen sämtliche Gegner vorzugehen.

Fethullah Gülen (Archiv).

Fethullah Gülen (Archiv).

Foto: dpa, ms lof tba

International stieß das harte Vorgehen Erdogans gegen seine Gegner auf scharfe Kritik. Ankara warf seinen westlichen Partnern dagegen einen Mangel an Solidarität vor. Heute ist das Verhältnis zu wichtigen Verbündeten wie Deutschland zerrüttet, während die Türkei selbst tief gespalten ist.

(hebu/afp/ap/dpa)
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