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EU-Gipfel in Bratislava Was die EU jetzt tun müsste

Meinung | Bratislava · Die Europäische Union beruht auf der politischen Gleichheit ihrer Bürger, jenseits nationaler Pässe. Der Gipfel in Bratislava sollte mit der Lebenslüge des Maastrichter Vertrags aufräumen. Die EU ist mehr als ein Markt.

 Familienfoto der EU-Regierungschefs in Bratislava

Familienfoto der EU-Regierungschefs in Bratislava

Foto: rtr, MDJ

Die europäische Unruhe ist groß vor dem Gipfel in Bratislava, auf dem nichts Geringeres als die Zukunft des Kontinents nach dem Brexit-Entschluss diskutiert werden soll. Und vielleicht tatsächlich auf dem Spiel steht. Denn es geht nicht nur um Großbritannien. Es geht um einen möglichen Dominoeffekt, der durch die Art und Weise, wie der Brexit verläuft, entstehen könnte.

Im Klartext verhandeln die Parteien die vier sogenannten Grundfreiheiten der EU, also der freie Verkehr von Gütern, Kapital, Dienstleistungen und Personen - die Essenz des europäischen Projekts. Fraglich ist, ob Großbritannien im Binnenmarkt verbleiben kann und wenn ja, zu welchen Bedingungen oder besser: zu welchen Konzessionen. Auf dem Spiel steht das hohe Gut der Freizügigkeit, also das Europa der Bürger, das zu opfern die EU sich gerade anschickt.

Den Briten wird es derzeit mulmig angesichts der kolossalen ökonomischen Folgen, die ein Brexit wahrscheinlich nach sich ziehen wird: Absturz des Pfund, Abwanderung sowohl von jungen Eliten als auch von Firmensitzen, Schadenersatzklagen etwa von japanischen Firmen, die investiert haben, um für den Binnenmarkt zu produzieren. Sie hätten gerne eine Lösung, die derzeit als "nearby-solution" kursiert: möglichst irgendwie nahe an der EU dran bleiben. Das bedeutet, Großbritannien möchte im Binnenmarkt bleiben, sich aber der Personenfreizügigkeit entledigen.

Auch die deutsche Industrie hätte an einer solchen Lösung Interesse. Der Markt soll offen bleiben, die nationale Grenze für Bürger aber wieder geschlossen werden. Weswegen derzeit Tausende Briten vor dem irischen Konsulat in London Schlange stehen, um einen irischen Pass zu erwerben - oder aber einen vom europäischen Kontinent.

Eine "nearby"-Lösung aber könnte einen Ansteckungseffekt produzieren. Mit einer solchen Lösung könnten gerade diejenigen liebäugeln, die derzeit auf europäische Werte und Solidarität pfeifen, aber trotzdem gerne vom Binnenmarkt profitieren wollen - notabene Ungarn oder Polen. Formal austreten und trotzdem drinbleiben können hieße die Versuchung, wenn ein solcher Präzedenzfall für Großbritannien geschaffen wird. Dies würde nichts anders bedeuten als die Rückabwicklung des politischen Projekts Europa.

Noch genauer wäre das die Perversion der europäischen Idee: dafür sind die Schlagbäume 1950 nicht abgerissen worden! In einen Binnenmarkt kann man sich nicht verlieben, sagte schon der frühere Kommissionspräsident Jacques Delors.

Die gesamten vergangenen 60 Jahre europäischer Integration waren seit den Römischen Verträgen von 1957 auf der sogenannten neo-funktionalen Methode aufgebaut. Die lautete: Ein gemeinsamer Markt produziert notwendigerweise immer mehr politische Integration. Aus einem Markt wurde eine Währung. Das Ziel des Maastrichter Vertrages war es, aus einer Währung eine politische Union zu machen. Vergessen wurde dieses Ziel schon lange. Aber im Zuge der Brexit-Verhandlungen soll es jetzt anscheinend ausgekippt werden wie das Kind mit dem Bade.

Vor dem EU-Rat in Bratislava zirkuliert derzeit ein Papier des einflussreichen Brüsseler Thinktanks Breugel, das genau dies vorschlägt: ein bisschen Handel und sonst nicht viel mehr. Als wäre nicht die Tatsache, dass die politische Union sowie die Fiskal- und Sozialunion verschleppt wurden, der Grund für den heutigen Populismus. Als wäre nicht das Fehlen etwa einer gemeinsamen europäischen Arbeitslosenversicherung der Grund für die soziale und wirtschaftliche Misere in Südeuropa, von der besonders die Jugendlichen betroffen sind.

Als wäre nicht der Verrat von Bürgerinteressen zugunsten von Banken der Grund für den heutigen Vertrauensschwund in die EU. Gerade weil das politische Europa nicht Realität geworden ist, sind heute die Bürger die Betrogenen. Und jetzt schickt sich die EU an, das zur Maxime zu machen.

Was die Europäische Union stattdessen tun sollte, wäre mit der Lebenslüge des Maastrichter Vertrags aufzuräumen. Wäre die Unionsbürgerschaft eine unmittelbare, dann könnte das Vereinigte Königreich - theoretisch zumindest - als Staat getrost aus der EU austreten, die Briten blieben weiterhin europäische Bürger. Dass dem nicht so ist, verweist auf die Achillesferse der europäischen Demokratie, denn Bürger sind souverän. Und Politik wird für Bürger gemacht, nicht für Märkte.

 Unsere Gast-Autorin Ulrike Guérot.

Unsere Gast-Autorin Ulrike Guérot.

Foto: ZDF/Markus Hertrich

Die Personenfreizügigkeit ist nicht verhandelbar. Sie ist Grundpfeiler des europäischen Rechts. Millionen von EU-Bürgern haben auf der Grundlage dieser Freizügigkeit Lebensentscheidungen getroffen, denen jetzt die Existenzgrundlage entzogen wird. Polnische Arbeitnehmer in Großbritannien, die dort ein Häuschen gekauft haben; deutsche Firmen, die jetzt nicht wissen, was aus ihren Mitarbeitern wird; europäische Studierende, die sich in London niedergelassen haben; Briten, die in Deutschland arbeiten oder die in Frankreich ein Ferienhaus erworben haben. Sie alle wissen nicht, was passieren soll, wenn durch einen Brexit de facto die Personenfreizügigkeit ausgehebelt wird, was aus ihren sozialen Rechten wird oder aus ihrem Eigentum.

Schlachten werden in der Vorneverteidigung gewonnen, nicht in der Rückabwicklung. Wenn sich die EU nicht die Blöße der Entkernung ihres politischen Projektes geben will, dann hat sie jetzt nur eine Chance, das ohnehin erodierte Vertrauen ihrer Bürger nicht weiter zu verspielen. Der einstige Slogan "Ein Markt, eine Währung" muss jetzt vervollständigt werden um "ein Markt, eine Währung, eine Demokratie". Eine Demokratie aber beruht auf der politischen Gleichheit ihrer Bürger, jenseits nationaler Pässe. Jeder europäische Bürger muss sich überall in Europa niederlassen dürfen und die gleichen Rechte genießen. Wer das nicht mehr verteidigt, verspielt die Zukunft Europas!

Ulrike Guérot ist Publizistin und Politikwissenschaftlerin. Seit April ist sie Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems in Österreich. Guérot wurde 1964 in Grevenbroich geboren.

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