Krise in der EU-Türkei-Beziehung Recep Tayyip Erdogan - der unberechenbare Partner

Berlin · Es sind verstörende Töne, die vom Bosporus herüberschallen. "Wir gehen unseren Weg, geht Ihr Euren" ruft der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan den Europäern zu. Und das Flüchtlingsabkommen, was soll daraus werden?

Recep Tayyip Erdogan: Das ist der türkische Staatspräsident
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Das ist Recep Tayyip Erdogan

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"Einigt Euch, mit wem Ihr wollt", lautet Erdogans rüde Abfuhr. Nicht nur der mühsam ausgehandelte Flüchtlingspakt droht jetzt in sich zusammenzufallen wie ein Kartenhaus. Die Beziehungen Europas zur Türkei, der die die Rolle eines Sicherheitspartners an der Schwelle zum Nahen Osten zugedacht war, stehen insgesamt zur Disposition. Erdogan stellt alles infrage.

Der starke Mann in Ankara verliert keine Zeit. Kaum hat er seinen Premierminister Ahmet Davutoglu abserviert, ruft der türkische Staatschef den nächsten Tagesordnungspunkt auf: So schnell wie möglich soll jetzt die Verfassung geändert und ein Präsidialsystem eingeführt werden. "Es gibt keinen Weg zurück, jeder sollte das inzwischen akzeptieren", sagte Erdogan am Freitag bei einer Kundgebung in Istanbul. Die neue türkische Verfassung: Sie wird zu einer Art Ermächtigungsgesetz, mit der sich Erdogan eine noch größere Machtfülle sichern will.

Dass Davutoglu die Allmachtsfantasien seines einstigen Förderers nicht mittrug, war nur ein Grund für Erdogan, sich von ihm zu trennen. Die Liste der Meinungsverschiedenheiten, die sich in den vergangenen 20 Monaten aneinander reihten, ist lang. So bemühte sich Davutoglu nach dem Verlust der absoluten Mehrheit bei den Wahlen vom Juni 2015 um die Bildung einer Koalition. Aber Erdogan wollte die Macht nicht teilen und führte Neuwahlen herbei. Davutoglu kritisierte öffentlich die von Erdogan betriebene Strafverfolgung regierungskritischer Akademiker und wollte den Friedensprozess mit den Kurden wiederbeleben. Erdogan verhinderte das.

Die Differenzen der beiden Politiker haben einen gemeinsamen Nenner: Während Erdogan auf Konfrontation setzt, suche Davutoglu den Konsens. Für europäische Politiker wie Angela Merkel war Davutoglu deshalb der bevorzugte Ansprechpartner in Ankara. Auch in Washington setzte man auf den gemäßigten politischen Pragmatiker. Das machte Davutoglu in den Augen regierungsnaher Medien zum Verräter. Davutoglu habe "mit dem Westen kollaboriert" und dessen "Trojanische Pferde" hereingelassen, hieß es kürzlich in einem politischen Blog, hinter dem Erdogan-Vertraute vermutet werden.

Nun demontiert Erdogan Davutoglus politische Hinterlassenschaft. Die mit der EU vereinbarte Reform der Antiterrorgesetze lehnt der Präsident strikt ab. Er will sie sogar noch weiter fassen, um sie als Allzweckwaffe gegen seine Kritiker wie missliebige Akademiker oder aufmüpfige Journalisten einsetzen zu können. Die Änderung der Antiterrorgesetze gehört zu den 72 Vorgaben, die Ankara für die Abschaffung der Visumpflicht umsetzen muss, die ihrerseits aus türkischer Sicht zentraler Bestandteil des Flüchtlingsabkommens ist. Ohne Visafreiheit werde die Türkei keine Flüchtlinge zurücknehmen, hat die Regierung in Ankara immer wieder erklärt.

Damit droht jetzt die Geschäftsgrundlage des Flüchtlingsdeals hinfällig zu werden. Die Vereinbarung basierte auf der Annahme, dass auch Ankara Interesse an einer Bewältigung der Flüchtlingskrise haben müsste. Daher das Angebot der EU, in den nächsten zwei Jahren sich mit sechs Milliarden Euro an der Unterbringung und Integration syrischer Flüchtlinge in der Türkei zu beteiligen, die Zusage beschleunigter EU-Beitrittsverhandlungen und die versprochene Aufhebung der Visumpflicht.

Aber die Prämisse, dass Europa und die Türkei in der Flüchtlingsfrage an einem Strang ziehen, gilt offensichtlich nicht mehr. Erdogan hat schon früher die Finanzhilfen der Europäer als unzureichend zurückgewiesen und gedroht, Millionen Flüchtlinge nach Europa zu schicken. Der EU-Spitze sagte Erdogan bei einem Treffen in Brüssel im vergangenen Herbst, es könne sein, dass die Türkei den Flüchtlingen "das Tor aufmacht und ihnen gute Reise wünscht".

Schon bisher war die Türkei kein einfacher Partner. Wenn nun der exzentrische Hitzkopf Erdogan noch mehr Macht bekommt, wird das Land vollends unberechenbar. Aus seiner Geringschätzung europäischer Werte hat Erdogan nie einen Hehl gemacht. Nicht nur in den Beziehungen zu Europa drohen schwere Turbulenzen. Auch die USA haben mit Davutoglu einen wichtigen Partner verloren. Ob und wie engagiert sich die Türkei nach Davutoglus Absetzung noch am Kampf gegen die IS-Terrormiliz beteiligen wird, ist fraglich. Für Erdogan dürfte der Krieg gegen die PKK und ihren Ableger in Syrien Vorrang haben.

Auch auf die Türken kommen schwere Zeiten zu, selbst wenn sie Erdogan noch mehrheitlich als ihrem starken Mann zujubeln. Der wieder auflodernde Kurdenkrieg droht das Land zu zerreißen. Mit der Ausschaltung Davutoglus setze Erdogan seinen "Marsch zur absoluten Macht" fort, schreibt der türkische Kolumnist Mustafa Akyol. Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu sieht sein Land bereits "auf dem Weg in eine Diktatur".

Dazu passen die Begleitumstände von Davutoglus Abgang. "Bis zum letzten Atemzug" werde er seine "Loyalitätsbeziehung zu unserem Präsidenten" fortsetzen, gelobte der geschasste Davutoglu. Niemals habe er sich abfällig über Erdogan geäußert, und ihm werde "auch in Zukunft kein schlechtes Wort über die Lippen kommen", versprach er unterwürfig.

Diese Worte sagen viel darüber, wie weit es mit der Türkei bereits gekommen ist. So spricht ein Untertan, der die Rache des Despoten fürchtet und um Gnade fleht.

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