Flüchtlingspolitik Der nächste Exodus kommt bestimmt

Düsseldorf · Die deutsche Flüchtlingspolitik setzt falsche Anreize, und sie hilft häufig den Falschen. Vor allem aber gibt sie keine Antworten auf den voraussichtlich dramatisch wachsenden Migrationsdruck aus dem Süden.

Ursachen der großen Flucht
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Foto: ALESSANDRO BIANCHI

Politik ist auch nur eine Frage der Schmerzgrenze. Wie viele Flüchtlinge kann Deutschland im derzeitigen Rhythmus noch aufnehmen, wie lange die Grenzen geöffnet halten, bis das System kollabiert? Die Kanzlerin versucht, diesen Zeitpunkt möglichst lange hinauszuzögern. Deutsche Asylgesetze werden verschärft, "Hotspots" genannte Auffanglager werden an den EU-Außengrenzen eingerichtet, und die Türkei wird mit Milliarden dafür bezahlt, die Migranten doch bitte zurückzuhalten.

Das ist schon ein sehr erstaunlicher Schwenk. Noch vor wenigen Wochen wäre jeder, der öffentlich gefordert hätte, was heute offizielle Politik der Bundesregierung ist, sogleich als Saboteur der Willkommenskultur in die Ecke gestellt worden. Und trotzdem werden Angela Merkels hektische Anstrengungen nicht viel nutzen. Unsere Flüchtlingspolitik hat keinen Plan. Schlimmer noch: Sie hilft nicht einmal den wirklich Bedürftigen. Und sie ist nicht vorbereitet auf den gewaltigen Migrationsdruck, der sich in den kommenden Jahren aufbauen wird.

Der syrische Bürgerkrieg, der derzeit die meisten Flüchtlinge nach Deutschland bringt, hat bislang knapp 14 Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Aber in Afrika sitzen Hunderte Millionen auf gepackten Koffern. Im Westen des Kontinents sind sie auf der Flucht vor den Angriffen radikalislamischer Terrorgruppen, anderswo vor der Armut. Die Vorzeichen stehen ungünstig: Die wirtschaftliche und demografische Entwicklung in Afrika könnte schon bald einen gewaltigen Exodus auslösen, gegen den sich die derzeitige Fluchtbewegung nach Europa harmlos ausnehmen würde.

Dabei waren zuletzt die Hoffnungen gewachsen, dass Afrika endlich von allein auf die Beine kommt. Zu Beginn des Jahrtausends gehörten einige afrikanische Volkswirtschaften zu den am schnellsten wachsenden der Welt. Einige Ökonomen bejubelten schon den Aufbruch der "afrikanischen Löwen". Doch heute zeigt sich: Es war nur ein Strohfeuer. Es wurde vor allem genährt vom gewaltigen Rohstoffhunger Chinas. Seit aber dort die Wirtschaft schwächelt, bleiben die Bestellungen aus. Und weil die korrupten afrikanischen Eliten den Aufschwung nicht genutzt haben, um die Wirtschaft zu diversifizieren, droht dem Kontinent jetzt eine brutale Rezession. Schon mit dem aktuellen Wachstum von durchschnittlich rund vier Prozent lässt sich die Armut nicht mehr zurückdrängen.

Grund dafür ist auch das anhaltend starke Bevölkerungswachstum. Laut UN-Prognose wird die Zahl der Afrikaner von heute rund 1,2 Milliarden bis 2030 auf knapp 1,7 Milliarden steigen, bis 2050 sogar auf 2,5 Milliarden. Es sei ausgeschlossen, sagt Helmut Asche, Leiter des Deutschen Evaluierungsinstituts der Entwicklungszusammenarbeit, dass dort aus eigener Kraft genug Jobs entstehen, um so einer rasch wachsenden Zahl von Menschen etwas anzubieten. Folge: "Das lässt noch mehr Menschen abwandern." Die Zahl der Migranten werde wachsen, solange die globalen Unterschiede beim Wohlstand so groß blieben, warnt Asche. Allein in den Ländern südlich der Sahara denkt Umfragen des Gallup-Instituts zufolge ein Viertel der Bevölkerung, das sind mehr als 200 Millionen Menschen, schon heute ans Auswandern. Nicht alle wollen direkt nach Europa. Aber viele sehen jetzt die Gelegenheit gekommen, ihr Glück in den reichen Industriestaaten zu suchen.

Das, so findet der in Oxford lehrende Entwicklungsökonom und Migrationsforscher Paul Collier, sei ganz klar auch Angela Merkels Schuld. Er glaubt, dass die deutsche Politik - trotz bester Absichten - sogar Tote auf dem Gewissen hat. Viele Menschen hätten Merkels Worte von den offenen Türen Europas im vergangenen Sommer als bedingungslose Einladung verstanden und sich danach überhaupt erst auf den lebensgefährlichen Weg nach Deutschland gemacht. Viele hätten dafür ihre gesamten Ersparnisse geopfert und sich in die Hände skrupelloser Schlepper begeben. Dabei hätten fast alle dieser Flüchtlinge zuvor schon in sicheren Drittstaaten Zuflucht gefunden.

Collier fordert "einen radikalen Schwenk in der Kommunikation". Europa, vor allem die Kanzlerin, müsse klar sagen, dass sich Wohlstandsimmigranten gar nicht erst auf den Weg zu machen brauchten. Aber auch an Leib und Leben bedrohte Flüchtlinge müssten sich zunächst in den Nachbarstaaten in Sicherheit bringen. Auch weil sie so eines Tages möglichst schnell in ihre Heimat zurückkehren können.

Syriens Nachbarländer Libanon und Jordanien haben Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Ähnlich geht es in einigen afrikanischen Staaten zu - und diese Anrainerländer darf Europa nicht im Regen stehen lassen. Sie müssen finanziell massiv unterstützt werden, und dies über viele Jahre. Wenn ein Konflikt so lange dauert wie der Krieg in Syrien, muss man für die Flüchtlinge vor Ort auch Jobs schaffen und jede Form von Infrastruktur, die ihnen nicht nur das nackte Überleben garantiert, sondern ihnen auch eine Perspektive für eine Rückkehr in die Heimat nach einem Ende des Konflikts bietet.

Und schließlich muss man das Asylverfahren ebenfalls in diese Länder verlagern, damit die Menschen, die dann - in begrenzter Zahl - nach Europa kommen, dies auf legale Weise tun können. Damit wäre auch endlich halbwegs sichergestellt, dass wir den wirklich Bedürftigen helfen. Heute werden vor allem jene Flüchtlinge belohnt, die einige Tausend Dollar für die Schleuser aufbringen können und die zugleich widerstandsfähig genug sind, um die strapaziöse und riskante Reise nach Norden zu überstehen. Es sind nicht die Ärmsten, nicht die Schwächsten. Es sind nicht unbedingt jene, die unsere Hilfe am dringendsten benötigen.

(RP)
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