Nach der Wahl Großbritannien oder Klein-England

London · Der Wahlsieg der Konservativen garantiert keine Stabilität. Das geplante Referendum über den EU-Austritt wird das Königreich polarisieren, der Triumph der schottischen Nationalisten bedroht seinen Zusammenhalt.

David Cameron: Der Wahlsieger tut sich mit dem Jubeln schwer
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So jubelt Wahlsieger David Cameron

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Das hatte keiner auf dem Schirm: Großbritannien hat gewählt, und das Ergebnis fiel zur allgemeinen Überraschung ganz eindeutig aus. Die Briten wollen eine Regierung der Konservativen und haben die Tories mit absoluter Mehrheit ausgestattet. Solch ein Ergebnis hatte bis zum Schluss keine einzige Meinungsumfrage für möglich gehalten. Selbst der Wahlsieger, Premierminister David Cameron, konnte es kaum glauben, wie viele Unterhaussitze er errungen hatte.

Während die Konservativen ihr Glück nicht fassen konnten, erlebte Labour eine Wahlnacht des Grauens. Zuvor hatte noch eine Meinungsumfrage nach der anderen ein Kopf-an-Kopf-Rennen prophezeit. Bis zur Schließung der Wahllokale war man im Labour-Hauptquartier bester Dinge, überzeugt, eine gute Chance auf die Regierungsbildung zu haben. Aber schon mit den ersten Trendrechnungen brach für Labour eine Welt zusammen. Statt der erhofften 270 bis 280 Sitze wurden der Partei nur 239 Mandate zugetraut.

Der Verlauf der Wahlnacht bestätigte die Exaktheit der Hochrechnung: Wahlkreis um Wahlkreis, wo Labour hätte gewinnen müssen, ging an die Konservativen, zum Schluss hatte man gerade 232 Sitze. Selbst Ed Balls, der finanzpolitische Sprecher Labours und ihr zweitmächtigster Politiker, ging unter. Er verlor seinen Wahlkreis an die Torys mit 422 Stimmen Abstand. Parteichef Ed Miliband zog am Freitag die Konsequenzen aus der schmählichen Niederlage und trat zurück.

Großbritannien: Ed Miliband leidet, David Cameron obenauf
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Gewinner und Verlierer in Großbritannien: Labour leidet, Cameron obenauf

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Foto: ap

Man könnte meinen, dass die Eindeutigkeit dieses Wahlergebnisses jetzt für Stabilität sorgen sollte. Aber das ist nicht unbedingt gesagt. Auf die Briten kommen bald Entscheidungen von existenzieller Tragweite zu: Entscheidungen über den Verbleib in der EU, über die Zukunft der Union zwischen Schottland und dem Vereinigten Königreich und über die künftige Gestaltung des Wahlrechts.

David Cameron hatte den Briten im Fall eines Wahlsieges ein Referendum versprochen: ob Großbritannien weiterhin Mitglied in der Europäischen Union sein will oder lieber austreten soll. Zu diesem Zweck wird er Verhandlungen mit den Partnerstaaten führen über weitreichende Reformen in der EU. Sollte er seine Reformen bekommen, will Cameron in der Volksabstimmung, die spätestens Ende 2017 stattfinden soll, für einen Verbleib streiten.

Das ist der Plan. Es ist sogar möglich, dass er funktioniert und dass die Briten sich europafreundlicher erweisen werden, als man gemeinhin annimmt. So zeigte eine kürzlich durchgeführte Erhebung eine Mehrheit für den EU-Verbleib.

Nigel Farage – Chef der britischen Partei Ukip
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Nigel Farage – Chef der britischen Partei Ukip

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Aber es gibt im Königreich auch starke Fliehkräfte, die für den Austritt arbeiten. Zuallererst innerhalb der Konservativen Partei selbst: Rund 80 Tory-Abgeordnete sind derart euroskeptisch eingestellt, dass ihnen, egal welche EU-Reformen angeboten werden, der Austritt allemal attraktiver erscheint. Mit einer nur knappen Unterhaus-Mehrheit wird Cameron angreifbar: Europa-Rebellen werden ihn unter Druck setzen wollen. Dazu kommt, dass die rechtspopulistische Ukip einen sofortigen Abschied von Europa fordert und in dieser Wahl immerhin einen Anteil von 12,6 Prozent der Stimmen erzielt hat — das sind rund 3,8 Millionen Briten. Zusammen mit einer rechten und europafeindlichen Presse wird sie schon bald die Kampagne für den Austritt beginnen.

Das zweite Schicksalsthema, das die Briten nach dieser Wahl beschäftigen wird, ist die Zukunft ihrer Union. Schottland ist nach dem Wahlausgang fast vollständig in Händen der für die nationale Unabhängigkeit streitenden SNP. Ihr gelang ein Erdrutschsieg, von 59 Mandaten hat sie 56 gewonnen. Labour, vormals Platzhirsch in Schottland, wurde weggefegt. Praktisch aus dem Stand gelang der SNP der Sprung zur drittgrößten Partei im Königreich.

Noch will die SNP das Thema der nationalen Unabhängigkeit nicht forcieren. Doch im nächsten Jahr finden die Wahlen für das Regionalparlament in Edinburgh statt, dann wird die SNP versuchen, ein deutliches Mandat für ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum zu gewinnen. Und die Chancen dafür stehen gut. Damit droht ein Auseinanderbrechen des Königreichs.

Das ist Ed Miliband
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Das ist Ed Miliband

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Zumal der Ausgang des Europa-Referendums auch direkte Auswirkungen auf das Schottland-Referendum hätte. Denn sollten sich die Briten gegen Europa entscheiden, wird das die Schotten umso mehr anstacheln, die Scheidung einzureichen. Aus Großbritannien könnte dann schnell Klein-England werden. Vielleicht wird diese Aussicht die Engländer bremsen: Dass eine Abkehr von Europa den Verlust Schottlands bedeuten würde. Dass es diese Furcht gibt, belegt nach Ansicht vieler Meinungsforscher auch der überraschende Umschwung am Wahltag.

Caroline Lucas, die einzige Abgeordnete der Grünen, brachte es auf den Punkt: "Die Politik der Furcht hat über die Politik der Hoffnung gesiegt." Wähler in England seien derart verschreckt gewesen über die mögliche Aussicht einer Labour-Regierung, die mit den schottischen Nationalisten paktiert, dass man sich in letzter Minute für die konservative Option entschieden habe.

Schließlich muss sich Großbritannien der Frage stellen, ob man sich das Mehrheitswahlrecht gesellschaftlich noch leisten kann. Denn die Verwerfungen, die das System produziert, sind gravierend. So werden die fast vier Millionen Briten, die für Ukip gestimmt haben, nur von einem einzigen Ukip-Abgeordneten repräsentiert. Landesweit jagten die Europaskeptiker nicht nur den Konservativen, sondern auch Labour in den Arbeiter-Hochburgen des Nordens massiv Stimmen ab. Gleichzeitig darf die SNP, die gerade einmal anderthalb Millionen Stimmen eingesammelt hat, sich über 56 Parlamentarier freuen. Man darf Zweifel haben, ob solch ein System noch zeitgemäß ist.

(jw)
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