Weltpolitik Große Mächte in Gefahr

Düsseldorf · Schwarzmaler beschwören heute gern eine Kriegsgefahr wie 1914. Tatsächlich gibt es verblüffende Parallelen. Zugleich hat sich aber das Krisenmanagement deutlich verbessert.

Für ein politisches Gleichgewicht ist nichts gefährlicher als Dynamik. Wenn einzelne gleich starke Mächte sich gegenseitig belauern und rational ihre Interessen vertreten, hat das meist positive Folgen für den Weltfrieden. Denn alle Beteiligten scheuen davor zurück, am Status quo etwas zu ändern. Dieses Konzept des politischen Gleichgewichts verfolgten Fürst Metternich nach dem Sieg über Napoleon im frühen 19. Jahrhundert und der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger im Ost-West-Konflikt. In beiden Phasen gab es lange Zeit keinen Krieg.

Gefährlich wird es, wenn plötzlich neue Mächte auftauchen, die dieses Gleichgewicht stören. Und diese Störung war vor 1914 zu beobachten. Auch 100 Jahre später ist die Welt wie selten zuvor in Bewegung. Gleich mehrere Dinge kommen in beiden Zeiten zusammen. Sowohl vor 1914 wie auch vor 2014 hat die Welt gewaltige technologische Schübe erlebt. Damals begann die wissenschaftlich fundierte Produktion in der Industrie - die Chemie, die Elektrotechnik und der Stahlbau entstanden. Sie bescherten den westlichen Zivilisationen enorme Produktivitätsgewinne und Lohnsteigerungen. Zugleich erlebte die Welt den ersten Schub der Globalisierung. Große Konzerne hatten ihre Werke von den USA bis Russland, exportierten in alle Weltgegenden.

Besonders frappant - auch hier den heutigen Verhältnissen ähnlich - gingen die Innovationen und die Dynamik vor allem von zwei Ländern aus: von Deutschland und den Vereinigten Staaten. Die hatten auf einmal das größte Bruttoinlandsprodukt der Welt, mit 32 (USA) und 15 Prozent (Deutschland) auch den jeweils größten Teil der Welt-Industrieproduktion. Dabei versechsfachten die Vereinigten Staaten in nur 34 Jahren ihre Herstellung von Industrieerzeugnissen, die Deutschen schafften immerhin eine Verfünffachung.

Der ruhende Pol im Mächtekonzert war Großbritannien mit seinem gewaltigen Kolonialreich. Es konnte seine Industrieproduktion seit 1880 nur um 70 Prozent erweitern. Aber es war nach wie vor das wohlhabendste und bevölkerungsreichste Machtgebilde der Erde. Hinzu kamen Russland, Frankreich und Österreich-Ungarn, jeweils mit großem Landes- oder Kolonialbesitz.

Die unterschiedlichen Interessenlagen, die wechselnden Bündnisse, die wachsende Nervosität wegen der sich unterschiedlich entwickelnden Potenziale von Wirtschaft und Militär, schufen ein Klima der Angst und des Misstrauens, das sich schließlich in einem gewaltigen, todbringenden, mit allen Mitteln der Technik geführten Weltkrieg entlud. Der Amerikaner George F. Kennan bezeichneten diesen Krieg als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Eine Welt ging damals unter.

Heute stehen sich ebenfalls beharrende und dynamische Mächte gegenüber. Die westliche Zivilisation hat sich seit den beiden Katastrophen von 1914 und 1939 weiterentwickelt. Die Vereinigten Staaten übernahmen die Führungsrolle von den Briten. Die Europäische Union schweißte mehr oder weniger die einst verfeindeten Nationen des alten Kontinents zusammen. Zugleich erlebte Russland nach der Machtfülle der Sowjetunion einen Abstieg und mit seinen Energiereserven einen neuen Schwerpunkt, während China die Front der Schwellenländer anführt und offenbar mit Erfolg versucht, seine vor 1800 bestehende ökonomische Vormachtstellung wiederzuerlangen. Wie 1914 erschüttern gewaltige Innovationen die Welt - Telekommunikation, Internet und Biotechnologie. Besonders dynamisch: USA und China, die ersteren als Pioniere, die anderen als Werkbank der Welt.

Doch es gibt gravierende Unterschiede. Während 1914 die Kommunikation zwischen den Mächten und die Kenntnisse voneinander höchst unvollständig waren und diplomatische Prozesse schon viel Reisezeit verbrauchten, gibt es heute eine Vielzahl von Konfliktlösungsmechanismen. Kein Tag vergeht, an dem Kanzlerin Merkel, US-Präsident Obama und Russlands Alleinherrscher Putin nicht miteinander telefonieren würden. Die Chinesen verfolgen zwar rücksichtslos ihre Interessen, tasten sich diplomatisch aber höchst vorsichtig voran. Auf Gipfeln von G 3 bis G 20 treffen sich regelmäßig die Mächtigen der Welt. Das ist keine Garantie, mindert aber das Risiko von Verwerfungen, die zu einem Dritten Weltkrieg führen könnten.

Davon völlig unterschiedlich und fast geordnet erscheint die Welt von 1964. Zwei gewaltige Machtblöcke, die Nato unter der Führung der Vereinigten Staaten und der Warschauer Pakt mit der Sowjetunion an der Spitze, stehen sich gegenüber. Sie haben seit dem Zweiten Weltkrieg ihre Länder wiederaufgebaut - unter verschiedenen ideologischen Vorzeichen. Erst als der Westen mit seiner Freiheit auch ökonomisch den Osten zurücklässt, zerbricht die Ordnung. Davor war sie lange Zeit äußerst stabil, auch wenn durchaus die Gefahr bestand, dass sich der Kalte Krieg in einen heißen hätte verwandeln können.

(RP)
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