Politologe Herfried Münkler im Interview Seid bitte keine Opfer

Berlin · Der renommierte Berliner Politologe Herfried Münkler analysiert, wie unsere Gesellschaft versucht, mit Terrorakten umzugehen. Dabei warnt er die Menschen vor allem davor, eine Opferrolle einzunehmen.

 Unser Autor Lothar Schröder sprach mit dem Berliner Politologen Herfried Münkler (Bild).

Unser Autor Lothar Schröder sprach mit dem Berliner Politologen Herfried Münkler (Bild).

Foto: A. Müller-Jerina

Der Forscher lehrt seit 1992 Politische Theorie und Ideengeschichte an der Humboldt-Universität in Berlin. Zuletzt sind von ihm die beiden Bücher "Macht in der Mitte" über die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa sowie "Kriegssplitter", über die Evolution der Gewalt, erschienen. Für sein Großwerk "Die Deutschen und ihre Mythen" wurde er 2009 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse geehrt.

Hat es den Wesenszug von Gesellschaften, Katastrophen nach einer gewissen Zeit wieder zu vergessen, immer schon gegeben? Oder ist das ein Phänomen unserer Gegenwart und ihrer medialen Rundumversorgung?

Münkler Sicherlich hat es die Fähigkeit von Gesellschaften zur Integration des Außergewöhnlichen ins Allgemeine, des Außeralltäglichen ins Alltägliche immer schon gegeben. Was heutige Gesellschaften von früheren freilich unterscheidet, ist ihre fehlende Fähigkeit oder Neigung, diese Katastrophe als Ausdruck bedeutsamer Entwicklungen oder gar eines Eingreifens Gottes in den Gang der Geschichte zu interpretieren. Nehmen wir die biblische Geschichte vom Untergang von Sodom und Gomorras, so kann man vielleicht sagen, dass hier die Vernichtung zweier Städte durch Großbrände im kollektiven Gedächtnis einer Gemeinschaft bewahrt wird, indem dieses Ereignis als Strafe Gottes für das Verhalten der Menschen gedeutet wird. Die Katastrophe wird also nicht in ihrem puren Sosein als Katastrophe hingenommen, sondern gedeutet und in Sinnzusammenhänge eingestellt, ja mehr noch, sie wird als ein Zeichen interpretiert, das die Menschen behalten sollen, damit es ihnen nicht selbst so ergeht, wie den Bewohnern beider Städte. Es ist nicht die Katastrophe selbst, sondern deren sinnhafte Deutung, die der Platzhalter im kollektiven Gedächtnis von Gemeinschaften und Verbänden ist. Das ist auch darum bemerkenswert, weil ein religiös grundierter Terrorismus oft den Versuch unternimmt, seine eigenen Handlungen durch entsprechende Erklärungen in dieser Weise sinnfällig zu machen, etwa, wenn der Islamische Staat die Terroranschläge in Paris dahingehend erläutert, die "Hauptstadt der Sünde und des Ehebruchs" sei von den "Gesegneten des Herrn" angegriffen worden. Das ist nicht nur eine Legitimation des wahllosen Mordes, sondern auch der strategische Versuch der Terroristen, die mürrische Indifferenz, mit der unsere Gesellschaften solche Ereignisse nach einiger Zeit vergessen und vergleichgültigen, zu konterkarieren. Was sich darin im Übrigen auch zeigt, ist der notorisch antiurbane Effekt der Asketen aus der Wüste, die sich als die großen Racheengel in den städtischen Raum einschreiben wollen.

Ist gerade die mediale Präsenz aller Krisenherde der Welt auch dafür verantwortlich, dass wir das Gefühl bekommen, aktuell sei alles schlimmer, als es jemals gewesen ist? Mit dem Unterschied, dass wir früher längst nicht über alles informiert waren.

Münkler Vermutlich sind wir nicht über alles, was tagtäglich in der Welt politisch passiert, informiert. Die Medien richten den Fokus ihrer Aufmerksamkeit immer nur auf ganz bestimmte Entwicklungen, in der Regel solche, die schlecht sind und etwas bedrohliches haben, weil nur denen Nachrichtenwert zugebilligt wird. Neben dieser medialen Heraushebung des Schlimmen, des Katastrophalen, des Bedrohlichen steht aber eine ungeheure mediale Anstrengung zur Verschönerung und Überzuckerung unseres Alltags, denken Sie nur an die Fülle der Ausflugs- und Liebesfilme, die regelmäßig im Deutschen Fernsehen gezeigt werden und bei denen von vornherein feststeht, dass alles ein Happy-End hat. Ich würde die Differenz zu früher also dahingehend konturieren, dass das Gute und das Schlimme medial sehr viel eindeutiger voneinander getrennt worden ist und nebeneinander herläuft, als dies in der Realität der Fall ist und früher bei geringerer medialer Aufbereitung wohl auch der Fall war. Selbstverständlich kommt hinzu, dass wir nicht mehr nur unsere engere Umgebung im Auge haben, sondern mit einer globalen Nachrichtenlage konfrontiert werden. Das führt einerseits zu einem gesteigerten Gefühl der Bedrohung, fördert andererseits aber auch die angesprochene Neigung zur Vergleichgültigung.

Ist das Vergessen auch eine Art Reinigung und in diesem Sinne überlebensnotwendig? Eine Gesellschaft löst sich nach einer gewissen Zeit aus ihrer Schockstarre und wird wieder produktiv?

Münkler Das ist ein wichtiger Punkt, den Sie da ansprechen. Ich würde schon unterscheiden zwischen Reinigung und Vergessen. Frühere Gesellschaften hatten Rituale, die sie einsetzten, um nach Katastrophen für sich einen Neuanfang in Szene zu setzen. Agrarische Gesellschaften haben im Übrigen dazu gar nicht der Katastrophe gebraucht, sondern diese Neuanfänge in die Zyklen der Jahreszeiten eingeschrieben. Der Gedanke des Neuanfangs oder des Wiederbeginns ist hier von großer Bedeutung, markiert er doch die Vorstellung, dass alles, was gewesen ist, nunmehr hinter uns liegt, dass die Dinge bereinigt sind. Das ist im Vergessen so nicht der Fall, es verfügt über keine rituelle Bestätigung, sondern ist ein schlichter Akt des Untergehenlassens. Es mag in mancher Hinsicht dieselben funktionalen Effekte haben wie die rituelle Selbstreinigung einer Gesellschaft, aber in mancher Hinsicht bleibt die Vergangenheit unaufgearbeitet irgendwo im kollektiven Unterbewusstsein liegen und kehrt bei entsprechender Gelegenheit wieder zurück.

Mitscherlich hat den Deutschen der Nachkriegszeit die Unfähigkeit zu trauern attestiert. Das hört sich ausschließlich negativ an. Aber ist diese scheinbare Unfähigkeit nicht auch eine Fähigkeit des Selbstschutzes?

Münkler Das ist wohl so. Die Trauerarbeit im psychoanalytischen Sinn ist ja eine ausgesprochen intensive Auseinandersetzung mit dem, was sich ereignet hat und worin man auf irgendeine Weise verstrickt war. Die Psychoanalyse war und ist der Auffassung, dass es dieser Aufarbeitung bedarf, dass wir in den Brunnen unserer Erinnerung hinabsteigen müssen, wie Thomas Mann das ausgedrückt hat, um mit uns wieder ins Reine zu kommen. Aber das ist nur möglich, wenn wir viel Zeit und viel Ruhe haben, wenn wir gleichsam aus dem Gang des Geschehens aussteigen können und Distanz zu uns nehmen. Doch das können moderne Gesellschaften nicht, sie müssen jeden Tag weiterfunktionieren, und deswegen ist, wie ich meine, die Unfähigkeit zu trauern, von der die Mitscherlichs gesprochen haben, kein spezifisch deutsches Phänomen, sondern eines der modernen Welt mit ihren Funktionszwängen, ihrer Hektik oder zumindest doch ihrer Betriebsamkeit.

Was kann man mit Gesellschaften geschehen, die ihr Leid, das sie erfahren mussten, von Generation zu Generation mit sich schleppen? Wird das Leid dann identitätsbildend?

Münkler So dramatisch würde ich es nicht sehen, aber es breitet sich wohl ein Gefühl aus, ein Opfer zu sein, und das sollte uns verdächtig sein. Wer sich als Opfer im viktimen Sinn sieht, hat zumal in unserer Gesellschaft der Versicherungsmentalität eine fatale Erwartung, dafür einen wie auch immer gearteten Ausgleich zu bekommen. Akkumuliertes Leid drängt auf Ausgleich, zumindest auf ein Geltendmachen von Entschädigungen, und im schlimmsten Fall führt es dazu, dass gewisse Tabus und Selbstbeschränkungen fallen. Ich denke, dass man Pegida in Dresden nicht verstehen kann ohne den Februar 1945, den Bombenangriff auf die Stadt, und den damit verbundenen Anspruch der Dresdner, die Verkörperung aller Bombenopfer in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs zu sein. Wenn man das ist, dann hat man gewisse Ansprüche, dann sieht man sich als überlegen an, dann braucht man auf nichts mehr Rücksicht zu nehmen, dann kann das entstehen, was wir an der Mittelelbe zurzeit beobachten. Das angesammelte oder auch bloß imaginierte Leid wird zum Vorzug und Vorrecht gegenüber allen anderen. Ich würde im Hinblick auf Leidakkumulation also weniger von Identitätsbildung als vom Anspruch auf Un-Verschämtheit im Sinne Nietzsches sprechen.

(los)
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