Obamas Gesundheitsnovelle auf der Kippe Im Krankenhaus droht Amerikanern der Ruin

Boston · Derzeit wird vor dem Obersten Gerichtshof der USA über die Rechtmäßigkeit der Gesundheitsnovelle von Präsident Barack Obama verhandelt. Die Republikaner wollen das Gesetz zu Fall bringen. Längst hat der Streit ideologische Züge angenommen. In Massachusetts entschloss man sich vor sechs Jahren zu einer ganz ähnlichen Reform – die heute populär ist.

 "Wäre ich nicht versichert, wäre ich pleite": Silvia Romero hat sich den Arm gebrochen.

"Wäre ich nicht versichert, wäre ich pleite": Silvia Romero hat sich den Arm gebrochen.

Foto: Herrmann

Derzeit wird vor dem Obersten Gerichtshof der USA über die Rechtmäßigkeit der Gesundheitsnovelle von Präsident Barack Obama verhandelt. Die Republikaner wollen das Gesetz zu Fall bringen. Längst hat der Streit ideologische Züge angenommen. In Massachusetts entschloss man sich vor sechs Jahren zu einer ganz ähnlichen Reform — die heute populär ist.

 Geduldig, gutmütig, subtiler Humor: Arzt Thomas Hines.

Geduldig, gutmütig, subtiler Humor: Arzt Thomas Hines.

Foto: Herrmann

Es war einer dieser Zufälle im Leben, die im Nu alles auf den Kopf stellen können. Beim Stepptanzen rutschte Silvia Romero unglücklich aus und versuchte, den Sturz mit dem rechten Arm abzufedern, ein Reflex, der die Sache wohl nur noch schlimmer machte. Mit einem Knochenbruch ging es ins Krankenhaus, wo ihr ein Chirurg eine Metallplatte einsetzte.

Ein paar Wochen muss Silvia den Arm noch in einer Binde tragen, dann kann das Leben normal weitergehen. Trotz des Malheurs spricht die Dolmetscherin von dem unverschämten Glück, das sie hatte. Wäre es ein Jahr früher passiert, der Sturz hätte sie in den Ruin getrieben. Operation, Klinikbett, Nachbehandlung, um die 30.000 Dollar hätte sie für alles hinblättern müssen. "Wäre ich nicht versichert, wäre ich pleite", sagt die 57-Jährige.

Silvia Romero und die Krankenversicherung, es ist eine lange Geschichte. Früher war das kein Thema, über das sie lange nachdachte. Die Betriebswirtschaftlerin aus Venezuela, die in den 70ern in Louisiana studierte und 2000 in die USA emigrierte, weil sie unter dem Linkspräsidenten Hugo Chávez keine Perspektive mehr für ihre drei Kinder sah, fand eine Stelle im Vertrieb einer Computerfirma. Der Lohn war nicht üppig, doch der Arbeitgeber zahlte die Krankenversicherung, wie es in den USA oft der Fall ist. 2008 wurde Silvia entlassen, und im Jahr darauf kam auch für ihren Mann René das böse Erwachen.

René hatte einen kleinen Fuhrpark gegründet, sechs Transporter, um behinderte Kinder zur Schule zu fahren. Nach einem Bürgermeisterwechsel kündigte die Stadt Springfield seinen Kontrakt. Nun standen die Romeros vor der Wahl: Entweder weiter die Kreditraten fürs Haus abstottern und den Versicherungsschutz aufgeben, oder weiter die Krankenversicherung bezahlen und nicht den Kredit — und am Ende das Häuschen verlieren.

Sie entschieden sich für das Dach überm Kopf. René, unbekümmerter als Silvia, beschwor das Prinzip Hoffnung: Sie seien doch beide gesund, es werde schon nichts passieren. So blieb es, bis Silvia beim Gespräch mit einer Bekannten von den billigeren Krankenversicherungen erfuhr, die Massachusetts neuerdings vermittelte. Pro Monat brauchte sie nur noch 116 Dollar zu berappen, ein Viertel dessen, was es vorher gekostet hätte. Das war es ihr wert. Und klar, dass sie nichts auf die Gesundheitsreform kommen lässt. "Mein Rettungsanker."

Massachusetts ist so etwas wie das Labor der Nation. Bereits 2006 führte der Ostküstenstaat die allgemeine Pflicht zur Krankenversicherung ein, übrigens unter einem Gouverneur namens Mitt Romney. Dessen Republikaner lassen allerdings heute kein gutes Haar an der Kopie des Romney-Originals, der landesweiten Reform von Barack Obama. Manchmal klingt es, als schwebe die Freiheit in höchster Gefahr, als drohe der Irrweg in den Sozialismus, die Gängelei. Es ist ein Glaubenskrieg, der jetzt auch mit einem Verfahren vorm Obersten Gerichtshof der USA sein härtestes Gefecht erlebt.

Allerdings, die Schlüsselparagrafen der Obama-Novelle treten erst 2014 in Kraft. Das bedeutet: Allein in Massachusetts lässt sich bislang ermessen, ob und wie die Reform funktioniert. Dort kam der entscheidende Anstoß interessanterweise von einem Geschäftsmann. Thomas Stemberg, Gründer der Schreibwarenkette Staples, hatte die "free riders" als akutes Problem erkannt. Nichtversicherte, die im Krankheitsfall die Notaufnahme der Kliniken aufsuchten, statt sich ins Wartezimmer einer Arztpraxis zu setzen. Im "Emergency Room" lagen und liegen die Kosten um das Drei- bis Fünffache über dem, was eine normale Praxis verlangt. Natürlich konnten die Spitäler die "free riders" nicht einfach abweisen, und die Zeche zahlte am Ende der große Pulk der Versicherten, dessen Prämien kräftig stiegen.

So konnte es nicht weitergehen, fand Stemberg. 2006 machte Massachusetts den Anfang mit einem Prinzip, das Obama 2010 übernahm. Keine "Schwarzfahrer" mehr, jeder hat gefälligst versichert zu sein. Und wer es dennoch ablehnt, wird mit Steueraufschlägen zur Kasse gebeten.

Nach einer Studie der Universität Harvard halten fast zwei Drittel der Bürger des Bundesstaats die Korrektur auch im Nachhinein für richtig, mag die ultrakonservative TeaParty-Bewegung noch so laut protestieren. Für Glen Shor ist es ein besserer Gradmesser als die dröhnende Debatte in Washington. "Dort kicken sie das Thema nur noch als politischen Fußball übers Feld, während die Fakten in der Versenkung verschwinden." Der Harvard-Absolvent leitet den "Health Connector", das Herzstück der Neuerung in Massachusetts, halb Handelsplatz, halb Ratgeber.

Mit Hilfe des Connectors konnten rund 215.000 Kunden bezahlbare Policen kaufen. Die Kraft der Masse ermöglicht es Shors Leuten, mit den Versicherungskonzernen niedrigere Beiträge auszuhandeln, als sie ein selbständiger Klempner oder Taxifahrer auf sich allein gestellt erzielen würde. Mit einem Gütesiegel garantiert der Connector, dass sich eine Versicherung nicht als Mogelpackung erweist, die einen im Regen stehen lässt, wenn man sie braucht, etwa durch absurd hohe Eigenbeteiligungen.

Nutznießer sind Menschen, die zuvor ins "donut hole" fielen, ins Loch des Zuckerkringels, wie Laien die Lücke salopp umschreiben. Sie verdienen zu viel, als dass sie sich für die Armenfürsorge Medicaid qualifizierten. Für Medicare, das subventionierte Gesundheitsprogramm für Rentner, sind sie dagegen zu jung. Und einen Arbeitgeber, der die Versicherung stellt, haben sie nicht. Silvia Romero, die mittlerweile als freiberufliche Spanisch-Übersetzerin in einem Spital arbeitet, ist ein klassischer Fall fürs "donut hole".

Thomas Hines ist ein Typ Doktor, der in Fernsehserien über hochverehrte Hausärzte die Hauptrolle spielen könnte. Geduldig, gutmütig, subtiler Humor. Der Weißschopf empfängt im Boston Medical Center, einem Krankenhaus, in dem er viel Zeit mit der Nachwuchsausbildung verbringt. "Exceptional care without exception" (außerordentlich gute Behandlung ohne Ausnahme) steht über einer Drehtür, und es ist nicht nur ein Spruch: Niemand bestreitet die hohe medizinische Qualität, die hier geboten wird. Doch wenn Hines aus dem Alltag plaudert, wird schnell klar, was für ein Sparpotenzial im medizinisch-industriellen Komplex schlummert.

Mancher kann nur dann ruhig schlafen, wenn ihn der Doktor zur Magnetresonanz-Tomografie schickt. Hines hält die teure Untersuchung zwar oft für überflüssig, doch in der Erwartungshaltung vieler Amerikaner gehört sie praktisch zum Standardprogramm. Da ist aber auch der Patient, der mit einem geröteten Zeh in seine Praxis kam. Als Nichtversicherter hätte er die Sache vielleicht so lange verschleppt, bis der ganze Fuß entzündet gewesen wäre. Aus ein paar hundert Dollar für die Behandlung wären rasch ein paar Tausender geworden, glaubt Hines und spricht vom allmählichen Sieg der Vernunft — dank der Reform.

Fein lächelnd zitiert er Kriegspremier Winston Churchill, der den Amerikanern bescheinigte, dass sie letzten Endes stets das Richtige tun. "Aber erst", sagt Hines frei nach dem berühmten Briten, "erst müssen wir alle anderen Möglichkeiten ausprobiert haben."

(csi/das/sap)
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