Helmut Michelis in Ruanda (1) Im Saal der Totenköpfe

Kigali · 20 Jahre nach dem Völkermord in Ostafrika hat unser Autor Helmut Michelis Ruanda bereist. Er traf mutige Menschen und sah Zeugnisse schrecklicher Verbrechen. In SOS-Kinderdörfern sah er Ruandas Hoffnung auf eine bessere Zukunft: Kinder, die in Frieden lesen und schreiben lernen. In vier Teilen berichtet der Autor von seinen Erlebnissen.

Helmut Michelis in Ruanda: Zu Besuch im "Kigali Memorial Center"
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Helmut Michelis in Ruanda: Zu Besuch im "Kigali Memorial Center"

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Der dunkle Saal im Zentrum des "Kigali Memorial Centers" ist voller Totenschädel und Knochen — ein makabrer und in Ruanda umstrittener Ausstellungsbeitrag in der Mahnstätte, die an den Völkermord vor 20 Jahren erinnert. "Es sind Beweise für das Grauen. Sie sollen jene Leugner der Verbrechen verstummen lassen, die es bei uns noch immer gibt", erklärt mir Alfred Munyentwari, der Direktor der SOS-Kinderdörfer in Ruanda, der seine deutschen Gäste durch die Räume führt. Schreckliche Bilder sind zu sehen von Toten und Verstümmelten — und Fotos, die sehr nachdenklich machen: Porträts später Ermordeter, darunter viele Kinder, bedecken mehrere Wände und geben dem anonymen Grauen Gesichter.

Unwillkürlich denke ich an den Museumskomplex Yad Vashem in Jerusalem, wo des Massenmords an Juden in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland gedacht wird — unfassbar, wie sich Menschen manipulieren lassen und was sie sich antun können. Wirklich verstehen kann ich das nicht. "Unmittelbar nach den Massakern haben wir einen Jungen aufgenommen, der sich damit brüstete, gemeinsam mit seinem Vater unzählige Tutsis umgebracht zu haben — eine große pädagogische Herausforderung, mussten wir doch akzeptieren, dass der Siebenjährige selbst nur ein Opfer gewesen ist", berichtet Munyentwari — eines von zahllosen Einzelschicksalen. Die Ruander führen heute wieder ein scheinbar normales Leben. Die seelischen Wunden sind aber nicht verheilt, das erfahre ich in zahlreichen Gesprächen. Einige wollen lieber gar nicht mehr über die Vergangenheit sprechen, was ich gut nachvollziehen kann.

1994 starben in Ruanda bis zu einer Millionen Menschen, meist Tutsi, ermordet von aufgehetzten Fanatikern der Volksgruppe der Hutu. Draußen, im Park vor der Mahnstätte, sind unter unscheinbaren grauen Betonplatten die Gebeine von 250.000 Opfern dieses Massenmordes beigesetzt — eine der Platten ist noch geöffnet, Blumen liegen auf der Glasabdeckung. "Es werden immer noch Tote gefunden", erläutert Munyentwari, der für das neue Ruanda steht: "Wir sind eine Nation. Es spielt keine Rolle mehr, woher wir stammen. Es geht darum, was wir zum Aufbau unseres Landes beitragen können." "Nach vorne blicken, gemeinsam die Zukunft gestalten" ist auch das offizielle Rezept der Regierung von Präsident Paul Kagame. Was in den Köpfen der Menschen vorgeht, darüber kann ich nur spekulieren.

 Unser Autor Helmut Michelis.

Unser Autor Helmut Michelis.

Foto: Louay Yassin

Tatsächlich gilt das "Land der tausend Hügel" — das bergige Ruanda ist auffallend fruchtbar und grün - heute als Musterland in Afrika: In der Hauptstadt Kigali wird viel gebaut, die breiten Straßen werden von fleißigen Kehrtrupps penibel sauber gehalten, das öffentliche Leben pulsiert. Umso ferner wirkt das Grauen, dessen in diesen Tagen vielfältig gedacht wird: So endete jetzt ein landesweiter Fackellauf in der Hauptstadt Kigali; Kagame entzündete mit der "Flamme der Erinnerung" ein nationales Licht der Trauer.

Der Bürgerkrieg in dem kleinen zentralafrikanischen Staat brach am 7. April 1994 aus. Äußerer Anlass war der Abschuss des Flugzeugs mit dem damaligen Präsidenten Juvenal Habayarimana an Bord. Wer die Rakete abfeuerte, ist bis heute unklar. Es könnten Rebellen gewesen sein, aber auch die eigenen Anhänger, um den Volkszorn gegen die Tutsi aufzustacheln. Experten vermuten heute, dass der Massenmord unter anderem mit infamster Hetzpropaganda von langer Hand vorbereitet wurde und dem Machterhalt einer Gruppe Hutu-Politiker dienen sollte.

Hutu und Tutsi, so lerne ich, sind keine Volksstämme, sondern soziale Gruppen. Deren Konkurrenz wurde von den Kolonialmächten, zunächst Deutschland und nach dem Ersten Weltkrieg Belgien, massiv gefördert. Die Tutsi waren angeblich die gebildete Elite des Landes und sollten es im Sinne der Kolonialherren regieren, Hutu die einfachen Bauern. Eine dritte Gruppe bildeten die Ureinwohner Twa. Aufgeteilt wurden die Menschen 1935 nach dem Besitz von Rindern: Wer mehr als zehn Tiere besaß, war automatisch ein Tutsi, wer gar kein Nutzvieh hatte, ein Twa. Nach der Unabhängigkeit (1962) kam es mehrfach zu Massakern unter diesen drei rivalisierenden Gruppen, die in dem Völkermord von 1994 gipfelten.

In die Gedenkstätte gelangen wir erst, nachdem Polizisten die Rucksäcke durchsucht und mit Spiegeln unter das Auto geschaut haben. Zwar gilt Ruanda als sicherstes Land Afrikas. Doch ins Ausland geflüchtete Rebellengruppen bedrohen den inneren Frieden. Im Stadtzentrum wacht darum alle Hundert Meter ein Polizist mit Kalaschnikow-Schnellfeuergewehr; öffentliche Gebäude können nur durch Sicherheitsschleusen betreten werden.

"Wir sind alle Ruander", lautet das Motto der Regierung, das vor allem in den Kindergärten und Schulen gelebt wird. Der Lehrer Cyprien Musumbuko, der in Byumba im Norden für die Münchner Hilfsorganisation "SOS-Kinderdörfer weltweit" arbeitet, zeigt stolz seinen neuen Personalausweis im Scheckkartenformat, auf dem die Zugehörigkeit zu einer der drei Gruppen nicht wie früher ausdrücklich vermerkt ist. "Die Leute fragen nicht mehr misstrauisch: Ist das ein Hutu oder Tutsi? Sie haben keine Angst mehr voreinander."

(mic)
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