Analyse Im Ukraine-Konflikt droht neue Runde

Moskau · Nach den umstrittenen Wahlen in der Ost-Ukraine ist der Friedensprozess in akuter Gefahr. Die Lage für die Menschen in den von prorussischen Separatisten kontrollierten Gebieten wird unterdessen immer schwieriger.

Separatisten lassen in Donezk wählen
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Separatisten lassen in Donezk wählen

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Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko will als Reaktion auf die international nicht anerkannten Wahlen in den ost-ukrainischen Rebellen-Regionen Donezk und Lugansk die geplanten Autonomierechte für die Ost-Ukraine wieder kassieren. Der mit dem Minsker Abkommen angestoßene Friedensprozess scheint gefährdet. Nachfolgend die Antworten auf die wichtigsten Fragen zum Konflikt.

Der ukrainische Außenminister Pawel Klimkin droht jetzt mit einer Rückeroberung der Ost-Ukraine. Wären die Ukrainer dazu überhaupt in der Lage?

Die Ereignisse im Sommer haben gezeigt, dass die ukrainische Armee durchaus eine realistische Chance gehabt hätte, die Separatisten zu besiegen. Doch als diese unter Druck gerieten, bekamen sie militärische Hilfe aus Russland. Damit war klar: Die Ukraine hat im Donbass verloren. Jede weitere Offensive würde von Russland abgeschmettert oder könnte Moskau sogar als Vorwand dienen, offiziell in die Ost-Ukraine einzumarschieren. Das weiß die Führung in Kiew. Und die Mehrheit der ukrainischen Bürger scheint sich dieser Tatsache auch bewusst zu sein. Bei der Parlamentswahl siegten die gemäßigten Kräfte. Rechte Nationalisten, die zu einer Rückeroberung des Ostens und der Krim aufriefen, blieben bedeutungslos. Trotzdem gibt es auch innerhalb des gemäßigten Lagers Differenzen: Präsident Poroschenko befürwortet eine Aussöhnung mit den Separatisten, Premier Arseni Jazenjuk äußert sich schärfer. Die Parlamentswahlen haben gezeigt, dass vielen Ukrainern Jazenjuks Position besser gefällt.

Wie sieht es angesichts des herannahenden Winters mit der Versorgungslage in der Ost-Ukraine aus?

Lebensmittel gibt es in der Ost-Ukraine zurzeit ausreichend zu kaufen. In der Millionenstadt Donezk haben zwar viele Geschäfte geschlossen, die großen Supermärkte und auch kleinere Lebensmittelläden haben aber geöffnet. Das Hauptproblem der Menschen in den von den Separatisten kontrollierten Gebieten: Das Geld wird immer knapper. Deshalb bilden sich überall dort lange Schlangen, wo Hilfsgüter aus Russland und vom Roten Kreuz kostenlos ausgegeben werden. In Donezk und anderen größeren Städten sind die Wohnungen ausreichend geheizt, Gas- und Stromversorgung funktionieren. Allerdings gibt es einige Außenbezirke von Donezk und auch Dörfer, die durch die Kampfhandlungen stark beschädigt wurden. Dort leben manche Bewohner in Kellern und müssen ohne Heizung auskommen. Auf dem Land ernähren sich viele Menschen hauptsächlich von dem Ertrag ihrer Gärten - das ist in der Ukraine aber vielerorts so.

Warum wird das Geld im Osten knapp?

Viele Betriebe und Geschäfte sind geschlossen, die Beschäftigten erhalten keine Gehälter mehr. Wer etwas auf dem Bankkonto hat, kommt an sein Erspartes nur schwer heran. Denn in den von den Rebellen kontrollierten Gebieten funktionieren die Geldautomaten nicht mehr. Es werden Bus-Touren in die Nachbarregionen organisiert, die unter ukrainischer Kontrolle stehen, etwa nach Charkow oder Dnjepropetrowsk. Dort können die Bürger Geld abheben. Viele haben aber Angst, unterwegs doch wieder in Kampfhandlungen zu geraten. Auch für Rentner ist so ein riskanter Ausflug der einzige Weg, an ihre Rente zu kommen. Kiew droht regelmäßig damit, die monatlichen Auszahlungen zu stoppen.

Wie geschlossen agieren die Rebellengruppen?

Die Separatisten sind ein bunt zusammengewürfelter Haufen mit vielen Anführern. Die von ihnen besetzten Gebiete zerfallen in mehrere "Kleinfürstentümer". Die bewaffneten Gruppierungen haben martialische Fantasienamen wie "Allgewaltiges Heer des Don" oder "Russisch-orthodoxe Armee". In der Bergbaustadt Antrazit hat der zaristisch gesinnte Kosaken-Führer Nikolai Kosizyn eine "Kosaken-Republik" ausgerufen. Ein anderer Anführer im Gebiet Donezk gefällt sich in Generalsuniform mit goldenen Tressen. Ohne die materielle, militärische und politische Hilfe Moskaus wären diese Gruppen verloren. Doch agiert Russland inzwischen vorsichtiger. So wurde im August der militärische Führer Igor Strelkow (eigentlich: Igor Girkin) abgezogen. Girkin ist russischer Staatsbürger und bekleidet nach Angaben des ukrainischen Geheimdienstes den Rang eines Obersten. Seine Rolle übernahm der Einheimische Alexander Sachartschenko, der sich nun zum "Präsidenten" der "Volksrepublik Donezk" wählen ließ.

Was ist aus dem "Noworossija" des Kremls geworden? Eigentlich war doch geplant, das besetzte Gebiet als "Neurussland" bis nach Odessa auszuweiten?

Manche Beobachter sehen in der Tatsache, dass Russland die selbst ernannten "Volksrepubliken" im Osten mit den Wahlen anerkennt, ein Zeichen dafür, dass der Kreml das Projekt "Noworossija" aufgegeben oder zumindest aufgeschoben hat. Der Hauptgrund für diese Entscheidung dürfte sein, dass die Bevölkerung in der Ost-Ukraine anders als auf der Krim nicht eindeutig für den prorussischen Kurs ist. Viele Menschen sind geflohen. Bei den Verbleibenden ist die Unterstützung für die Separatisten so schwach, dass die Rebellen darauf verfielen, Bürger wegen geringer Vergehen zu "Zwangsarbeit" zu verurteilen. Unter Bewachung mussten sie Schützengräben ausheben. Das Vorhaben Russlands, in der russischsprachigen Ost-Ukraine einen "Volksaufstand" gegen das angeblich faschistische ukrainische Regime in Kiew zu inszenieren, hat nicht funktioniert. Auch militärisch gerieten die Rebellen im Sommer durch die Offensive der ukrainischen Armee stark unter Druck. Moskau musste die Zahl der über die Grenze einsickernden Soldaten erhöhen, um den Separatisten beizuspringen. Doch Berichte über gefallene russische Militärs sorgten in der russischen Öffentlichkeit für Unruhe. So erscheint es dem Kreml offenbar derzeit politisch und militärisch zu riskant, das Konzept "Noworossija" umzusetzen.

(RP)
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