Die Insel nach der Finanzkrise Irlands Comeback hat einen hohen Preis

Dublin · In Rekordzeit hat sich das hoch verschuldete Land nach der Beinahe-Pleite in der Finanzkrise 2008 wieder aufgerappelt. Die Staatsverschuldung sinkt, die Konjunktur kommt langsam wieder in Fahrt. Doch der radikale Sparkurs, der auch die kommenden Jahre noch fortgesetzt werden muss, hat viele Iren den Job gekostet. Die "kleinen Leute" sind die Verlierer.

 Gertie Humphrey leidet unter den Reformen. Die Blumenhändlerin macht deutlich weniger Umsatz, sagt sie.

Gertie Humphrey leidet unter den Reformen. Die Blumenhändlerin macht deutlich weniger Umsatz, sagt sie.

Foto: Makartsev

In einer Galerie in Dublin hängt ein Bild, das sehr treffend die irische Not darstellt: Auf der Zeichnung sieht man einen Dampfer, aus dessen Schlot kleine Euro-Zeichen qualmen. Auf dem überfüllten Deck stehen viele Menschen, die ängstlich auf schwimmende Bomben im Ozean starren. Die Iren greifen jetzt gerne auf die maritime Symbolik zurück. Die Pessimisten sehen die Inselrepublik als ein "kleines Boot, das schnell untergeht", während die Optimisten den Vergleich mit einem "wendigen Schnellschiff" bemühen, das große "Euro-Tanker" wie Deutschland überholen soll.

 Regierungschef Enda Kenny verweist auf die Erfolge seiner Politik — und will Kurs halten.

Regierungschef Enda Kenny verweist auf die Erfolge seiner Politik — und will Kurs halten.

Foto: AFP, AFP

"Außerordentliches Ereignis"

Die Wahrheit liegt wohl dazwischen. Mit einem neuen Kapitän am Steuer ist dem verschuldeten Irland in diesem Jahr eine Flucht aus den stürmischen Gewässern gelungen. Doch die 4,6 Millionen Einwohner auf der grünen Insel haben einen hohen Preis für ihre spektakuläre Kurswende bezahlen müssen. Regierungschef Enda Kenny nannte sie ein "außerordentliches Ereignis": Erstmals seit 31 Jahren hielt am 4. Dezember ein irischer Premier eine "Rede zur Nation" — und er hatte nicht viel Erfreuliches zu berichten. Das Land müsse sich auf vier harte Jahre einstellen, warnte der 60-jährige Chef der konservativen Partei Fine Gael. Trotz des guten Reformstarts seien in Irland "schmerzliche Opfer" nötig.

Mit diesen Worten bereitete der im Februar gewählte Kenny die Öffentlichkeit auf seinen Sparhaushalt vor, der vielen Iren die Tränen in die Augen trieb. Rotstift, wohin man schaut. Die Mitte-Rechts-Koalition will ihre Ausgaben 2012 um 3,8 Milliarden Euro reduzieren, durch die Entlassung von 6000 Angestellten im öffentlichen Dienst, Kürzungen beim Kindergeld, der medizinischen Versorgung und durch eine radikale Verschlankung des Regierungsapparats. Es ist die siebte große Sparrunde seit dem Beginn der irischen Krise, der bislang 325 000 Jobs zum Opfer gefallen sind. Seit 2008 wurden auf der Insel die Sozialausgaben um vier Prozent und die Löhne im Staatsdienst um 14 Prozent gekürzt. Die Einsparungen von 21 Milliarden Euro entsprechen 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP).

"Wir korrigieren unsere Fehler"

Es ist nicht genug. Um das Haushaltsdefizit von derzeit 10,3 auf unter drei Prozent zu drücken, hat sich die "Finanzfeuerwehr" des rothaarigen Kenny bis 2015 weitere Einschnitte von 20 Prozent des BIP vorgenommen. "Als gute EU-Partner korrigieren wir selbstverständlich unsere Fehler", erklärt der Wirtschaftsminister Richard Bruton. Der ehemalige "keltische Tiger", der 2010 durch einen internationalen Notkredit von 67 Milliarden Euro gerettet wurde, will es wieder allen zeigen — aber diesmal mit neuer Bescheidenheit.

"Wir sind die Besten unter den Schlechtesten", gesteht Gary Tobin, Ökonom beim Finanzministerium. "Unser Ziel ist es jedoch, die Schlechtesten unter den Besten zu werden." Die Iren sprechen heute kopfschüttelnd von dem dramatischen Jahr 2008, als die Immobilienblase platzte und der von allen bewunderte "Tiger" eine Riesenrechnung für seinen Boom auf Pump bekam. "Jahrelang war das leichte Geld auf uns wie Konfetti hinabgeregnet, und die Menschen ließen sich von den Banken zum Kauf von neuen Häusern und Autos überreden. Und auf einmal waren viele pleite", erinnert sich der Hotelbesitzer Donal Gallagher aus Dublin. Die Baubranche brach um 60 Prozent ein.

"Wir unterschätzten die Kosten"

Das zweite große Problem waren die Banken mit einer "toxischen" Schuldenlast von 81 Milliarden Euro. Als erstes EU-Land entsorgte Irland diese Papiere in einer "Bad Bank" (NAMA). "Wir unterschätzten jedoch die Kosten der Krise, bis der Regierung im Herbst 2010 keine andere Wahl blieb, als die ausländische Hilfe anzunehmen", sagt John Fitzgerald vom Wirtschaftsinstitut ESRI. Seitdem rackert sich das kleine Euroland ab, um seinen gewaltigen Schuldenberg (derzeit 105 Prozent des BIP) abzutragen und die eingebüßte finanzpolitische Souveränität wiederzugewinnen.

Mit Erfolg: Alle Vorgaben der Kreditgeber wurden erfüllt. Das Wachstum soll in diesem Jahr etwa 1,3 Prozent betragen und zwischen 2013 und 2015 im Schnitt 2,8 Prozent. Das Geheimnis des irischen Comebacks sei keineswegs nur die konkurrenzlos niedrige Körperschaftssteuer von 12,5 Prozent, versichern die Experten in Dublin. Sie nennen eine Kombination aus drei Faktoren entscheidend für den Wandel des einstigen "Sorgenkindes" zum "Musterschüler" Europas. Erstens, ein unternehmerfreundliches Klima in der zweitoffensten Wirtschaft der Welt, die in der Rangliste der Standortqualität Platz neun von 183 Ländern belegt. Zweitens, eine hohe Anzahl von bestens ausgebildeten, jungen Fachkräften. Drittens, ein guter Ruf bei den ausländischen Investoren, die Irland als ein Tor zum EU-Markt sehen.

300 Deutsche Firmen machen mit

Diese Zutaten des Erfolgs sorgen für einen anhaltenden Exportboom beim Ex-Tiger, dem die Finanzkrise wenig anhaben kann. Der Gesamtwert der aus Irland ausgeführten Waren und Dienstleistungen kletterte 2010 nach einem Zuwachs von 6,7 Prozent auf ein Rekordhoch von 161 Milliarden Euro. Die durch 1000 multinationale Unternehmen dominierte Exportbranche ist heute ein Motor der Reformen. Auch etwa 300 deutsche Firmen tragen dazu bei, dem irischen Schiff in harten Zeiten Auftrieb zu verleihen. 40 Prozent dieser florierenden Unternehmen wollen 2012 neue Mitarbeiter einstellen und zum Teil kräftig expandieren.

Die Freude der "Multis" lässt jedoch viele Iren kalt. Denn die Binnenwirtschaft liegt mangels Nachfrage und günstiger Kredite weiter am Boden. Die Realeinkommen der Haushalte fielen bis 2010 um zwölf Prozent. "In unsicheren Zeiten sparen die Menschen mit 13 Prozent ihres Einkommens doppelt so viel wie früher", heißt es im Finanzministerium. Ohne Konsum kann es jedoch keine Erholung geben. Eine Folge ist der rasche Schwund von Arbeitsplätzen. "Die Privatwirtschaft hat diese Misere verursacht, doch die Regierung kürzt im öffentlichen Sektor, statt die Reichen zur Kasse zu bitten", kritisiert Brid O'Brien von der Organisation der Arbeitslosen (INOU). "Viele Menschen befürchten, dass sie nie wieder Arbeit finden werden."

"Ich verdiene 30 Prozent weniger"

Man trifft überall die Verlierer der Krise. "Ich verdiene 30 Prozent weniger, seit die Blumen für die Iren zur Luxusware geworden sind", klagt Gertie Humphrey, die in Dublin Lilien und Astern verkauft. Aidan Carmody kann seit seinem Uni-Abschluss keine Arbeit finden. Der junge Grafiker erntete im Sommer in Frankreich Trauben für einen Stundenlohn von sieben Euro, jetzt verkauft er auf einem Weihnachtsmarkt leuchtende Sterne. "Ich muss weg, hier gibt es keine Zukunft für mich", sagt Aidan.

Andere Inselbewohner geben sich nicht geschlagen. So investierte der Ingenieur Gavan O'Sullivan vor drei Jahren 20 000 Euro in eine Firmengründung, um eine von ihm erfundene Inhalatormaske für Pferde an Kunden aus aller Welt zu verkaufen. Nortev aus Galway hat heute bereits zehn Mitarbeiter und will 2012 die Produktionszahlen verdoppeln. Einige Iren nähren ihren Optimismus auf andere Art.

"Meine Umsätze fallen, trotzdem bin ich glücklich. Denn ich kriege ein Baby", lacht Jenny Little, Besitzerin eines Schokoladengeschäfts in Galway. Ihren Freunden gehe es ähnlich, erzählt die junge Frau: "Keiner hat Arbeit, keiner geht in den Pub, dafür zeugen wir Kinder."

(csi)
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