Essay ISIS, die Ukraine und die Verunsicherung Europas

Moskau · Nicht dass bisher das Paradies auf Erden geherrscht hätte. Aber im letzten halben Jahr sieht sich zumindest der Westen, der so hartnäckig an Aufklärung und Fortschritt glaubte, Erscheinungen gegenüber, die er bisher nicht kannte.

So entstand der Name der Terrormiliz Islamischer Staat (IS)
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Foto: ap

Nicht nur in der arabischen Welt, wo die Barbaren der ISIS dabei sind, ganze Nationen zum Kollaps zu bringen und alles zunichte zu machen, was die Weltgemeinschaft bisher für richtig hielt. Sondern auch in Europa, das mit dem Konflikt in der Ukraine unversehens in eine Entwicklung hineingeriet, deren Perspektiven sich nicht absehen lassen. Wenn sich beide Phänomene auch nur schwer vergleichen lassen, so weisen sie doch einige erstaunliche Parallelen auf.

Zunächst zu Europa. Gerade noch schien die Nachkriegsordnung gefestigt, die Grenzen sicher, der Frieden stabil. Bis im letzten Jahr Wladimir Putin den Kontinent als Geisel nahm. Ähnlich wie im Mittleren Osten werden auch hier Grenzen verschoben und es wurde ein Krieg entfacht. Auch wenn Europa diesen wider besseres Wissen lange nicht als solchen bezeichnen wollte. Wie groß die politischen und militärischen Zerstörungen sowie das menschliche Leid hier wie dort am Ende sein werden, wie die Welt danach geordnet sein wird, ist weder für den Kalifen der ISIS, und ganz sicher auch für Wladimir Putin nicht absehbar.

Dennoch schreitet auch letzterer jeden Tag weiter voran in eine Zukunft, von der er wohl keine klaren Vorstellungen hat. Oder doch. Vielleicht geht es ihm nur um eines: dass alles wieder so wird wie früher, nur dass Russland noch mächtiger, schöner, einiger und gläubiger werden soll als damals. Indem er in die Zukunft schreitet, ist Wladimir Putin ein Avantgardist. Aber er ist einer mit rückwärtsgewandter Utopie. Auch darin besteht möglicherweise eine Parallele zum fundamentalistischen Islam. Mit voller Kraft voran in die Vergangenheit, wahlweise ins zaristische oder wenigstens autoritär totalitäre Russland oder in das Arabien des Propheten.

Und Europa? Es reibt sich überrascht die Augen.

Die Milizen der ISIS bemerkte der Westen erst, als diese ihren Siegeszug antraten. Und auch die Besetzung der Krim als Auftakt des militärischen Eingreifens des Kreml in der Ukraine traf ihn aus heiterem Himmel.

Dabei waren die ideologischen Grundlagen für letzteres schon lange gelegt. Seit Jahren unterstellte Moskau dem Westen in Gestalt der Nato Expansionsdrang. Der "Aggressor EU" wurde allerdings erst 2014 eilig nachgereicht. Wozu? Um nach dem ältesten Rezept der Machtsicherung im Inneren durch Beschwörung eines äußeren Feindes vom Stillstand im eigenen Land abzulenken und Kräfte an der Heimatfront zu mobilisieren.

Tatsächlich machte Moskau sich immer wieder über den Westen lustig, besonders über die EU, die es als nichtmilitärische Struktur für nicht ebenbürtig hält. Nach dem Umsturz in Kiew wurde dem Westen nun aber endgültig die Rolle eines Aggressors zugeschrieben, auch wenn dieser die existentielle Bedrohung vor der eigenen Haustür jahrelange verschlafen hatte. Mit der Besetzung der Krim wurde aus der ursprünglich für den russischen Binnenkonsum gedachten Ideologie plötzlich reale Feuerkraft. Dennoch behauptet Moskau steif und fest, die Ursache des Konflikts in der Ukraine läge im Westen. Aber die Verdrehung von Ursache und Wirkung und das Außerkraftsetzen von Logik sind längst zu einem Mittel der hybriden russischen Kriegsführung geworden.

Paradoxerweise macht der Krieg auch deutlich, wie sehr der Kreml den Westen braucht. Nicht nur zur Machtsicherung im Inneren. Vor allem als Spiegel der eigenen, lange nicht mehr wahr genommenen Größe. Der Kreml sonnt sich in der Aufmerksamkeit, die er erzwungen hat. Was für eine Genugtuung für den Herrscher einer Macht, die Barack Obama gerade noch als ¨Regionalmacht¨ deklassierte. Plötzlich kann sie machen, was sie möchte, und wähnt sich erstmals seit Ende des Kommunismus wieder auf Augenhöhe mit den USA. Auch in der erzwungenen Aufmerksamkeit gibt es eine Parallele zur ISIS. Selbst eine Supermacht kann den Milizen, vor deren Videos die Welt erschauert, nur wenig entgegenzusetzen. So gleichen sich die Wünsche.

Vor allem aber haben der Kreml und die ISIS eine ähnliche Furcht: Die Herausforderungen der gesellschaftlichen Modernisierung. Was die russische Machtelite betrifft, so müsste sie, wenn sie eine Modernisierung der Gesellschaft zuließe, um ihre Position bangen. Auch darum schreckt sie vor einem Krieg nicht zurück. Bei der ISIS wiederum sammelt sich der Bodensatz verschiedener Gesellschaften, junge Männer, die in ihren Heimatländern nichts zu verlieren haben und im Krieg anscheinend nur gewinnen können.

Russland braucht die Bedrohung von außen, um sich als reformunfähiges autoritäres Staatswesen zu erhalten. Dazu gehören auch turnusmäßig bewaffnete Konflikte. Fehlt diese Bedrohung, wie es seit Ende der UdSSR der Fall ist, wird sie erfunden. Denn mit dem System steht längerfristig auch Präsident Putins Herrschaft zur Disposition. Das ist das übergeordnete Leitmotiv des Waffenganges.

Und anders als die Kalten Krieger von einst sind die Strategen von heute unberechenbar. Der Kalte Krieg nötigte den Kontrahenten auf, sich auch noch an den letzten I-Punkt internationaler Vereinbarungen zu halten. Diese Zeiten sind nun zu Ende. Im Nachhinein könnten sie noch für ihre Stabilität gepriesen werden.

Dabei führt sowohl die ISIS als auch der Kreml mit ihrer unkonventionellen, asymmetrischen Kriegführung den Westen vor, der dieser kaum etwas entgegenzusetzen hat. Während die Propaganda der ISIS vor allem bei Angehörigen einer desorientierten Jugend verfängt, erreichen die professionellen Lügen Russlands gerade jene bürgerlichen Kreise, für die Kritikfähigkeit, Dialog, Wahrhaftigkeit und Informationsfreiheit eigentlich zentrale Werte sind. So ist es ausgerechnet einer Staatsmacht, die ihre heimischen Kritiker als ¨Fünfte Kolonne¨ denunziert, gelungen, genau jene Bürger, deren Kritik und Misstrauen gegenüber den Institutionen des eigenen Staates zur Grundausstattung der Demokratie gehören, für sich zu instrumentalisieren und zu Verbündeten zu machen.

Bereitwillig wiederholt diese westliche Klientel Moskaus Behauptungen. Nicht nur, dass Russland von der Nato bedroht und eingekreist worden sei. Russland fühlt sich von der Nato nicht bedroht, eher eingeengt: Nachbarn kann es nicht mehr beliebig zu Satelliten machen. Auch dass die Ukraine von Faschisten geführt werde und die russische Sprache dort nun verboten sei, taucht als Rezitativ auf. Die Übernahme solcher Versatzstücke im Westen stattet den Kreml sukzessive mit einem natürlichen Recht aus, über Nachbarn zu gebieten. Moskau stiftet gezielt Verwirrung. Man denke nur an die Behauptung, die in der Ukraine Krieg führenden russischen Soldaten seien auf Urlaub dort.

Solche Absurditäten haben System. Ohne die hohe Schule der KGB-Diversion und neuer Informationstechnologien wäre die Desinformation nicht so perfekt. Das Ergebnis ist: ein nicht unwesentlicher Teil der kritischen Öffentlichkeit ist geneigt, im Aggressor Putin den Getriebenen zu sehen. Ganz wie es sich der Kreml wünscht. Dazu trägt auch Antiamerikanismus als Katalysator bei, der aus gestandenen Antiimperialisten und Antifa-Aktivisten Parteigänger der letzten imperialistischen Kraft auf europäischem Boden macht. Der europäische Gutmensch ist dem Zynismus und der Perfidie Moskaus nicht gewachsen. Auch diese Deformation lag bisher jenseits unserer Vorstellungskraft.

Moskau führt in der Ukraine Krieg, die ISIS in Syrien und im Irak. Die eigentlichen Gegner sind jedoch im einen Fall das Gesellschaftsmodell Westeuropas im anderen die gesamte zivilisierte Welt. Das lässt eine Lösung beider Konflikte in weite Ferne rücken.

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