Analyse Ist der Nahe Osten noch zu retten?

Berlin · Der als Durchbruch gefeierte Waffenstillstand in Israel hielt nur wenige Minuten. Stattdessen dreht sich die Spirale der Gewalt erneut schneller. Für die nächsten Tage ist weiteres Blutvergießen zu befürchten.

Zerstörung, Flucht und Proteste in Israel und im Gazastreifen
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Zerstörung, Flucht und Proteste in Israel und im Gazastreifen

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Tagelang hatten Vereinte Nationen, Arabische Liga und weitere internationale Akteure auf die Kontrahenten einzuwirken versucht und alle Kräfte auf einen Waffenstillstand als Signal für Verhandlungen konzentriert. Als Israel die von Ägypten verhandelten Bedingungen gestern Morgen akzeptierte und alle Angriffe einstellte, reagierte die palästinensische Hamas mit dem Abfeuern von rund 50 Raketen auf Städte und Dörfer in Israel. Und sie kündigte zugleich an, die "Schlacht" gegen Israel "noch grausamer" zu führen. Israel griff daraufhin wieder Ziele im Gaza-Streifen an und drohte ebenfalls mit verschärfter Gangart. Außenminister Avigdor Lieberman will den Gaza-Streifen mit Boden-truppen besetzen, die Hamas "endgültig" entwaffnen. Mittendrin: Deutschlands Außenminister Frank-Walter Steinmeier.

Ist der Deutsche, dem bei seiner neuen Nahost-Mission alle Gesprächspartner als erstes zum Weltmeister-Titel gratulieren, der neue starke Vermittler? Zumindest ist er einer der ganz wenigen Spitzenpolitiker, die sich nicht wegducken. Damit stößt er in ein Vakuum. Nach seinem gescheiterten Nahostplan kommt von US-Außenminister John Kerry erst einmal keine neue Initiative, der britische Außenminister William Hague legte sein Amt nieder, und auch die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton wirkt, als sei sie schon im Abklingbecken ihrer Karriere. Da ist die Erwartung naheliegend, die Jordaniens Außenminister Nasser Dschudeh nach einem Gespräch mit Steinmeier in die Welt setzte, indem er diesem die Schlüsselrolle zusprach.

Gazastreifen: Bilder von gut gelaunten israelischen Soldaten in Panzern
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Israel rückt mit Panzern am Gazastreifen an

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Der wehrte sofort ab. Deutschland dürfe sich in der "zugespitztesten Situation" nun nicht übernehmen. Deshalb sei er nicht in einer "Vermittlungs- und Mediatorenrolle". Aber er stellt Kommunikation mit Worten wieder her, wo beide Seiten nur noch Waffen sprechen lassen. Das haben seine Vorgänger Guido Westerwelle und Joschka Fischer wiederholt getan. Denn Deutschland findet sowohl bei Israelis als auch Palästinensern Vertrauen, kann per Pendeldiplomatie ausloten, wer sich wo zurücknehmen könnte.

Die Situation ist derzeit jedoch besonders verfahren. So viele Israelis wie nie zuvor erleben am eigenen Leib das Gefühl tödlicher Bedrohung. Gestern starb ein Israeli an den Verletzungen, die er beim Raketenbeschuss des Gaza-Grenzübergangs erlitten hatte. Er ist der erste Tote auf israelischer Seite in dem aktuellen Konflikt. Die neue Generation der Hamas-Raketen vermag, sechs Millionen Israelis zu terrorisieren. Über 1000 Raketen sind in den letzten Tagen abgefeuert worden. Seit 2001 vermerkte die israelische Armee über 15 000 Angriffe auf Israel.

Gazastreifen: Bilder der Raketenangriffe durch Israel
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Weitere Tote bei Raketenangriffen auf Gazastreifen

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Das verändert die Stimmung und lässt Zweifler einer Zweistaatenlösung erstarken. Jeder Schritt in diese Richtung, also insbesondere der Rückzug aus dem Gaza-Streifen, habe die Sicherheit für Israel verschlechtert. Verbittert vermerken die Menschen in Israel zudem die Wahrnehmung im Rest der Welt, die immer wieder das starke, blutig zuschlagende Israel darstelle, die täglichen Raketenangriffe gegen israelische Zivilisten aber nur unter ferner liefen zur Kenntnis nehme. Israel versucht es mit einer Informationskampagne, zeigt vermehrt Bilder von Raketenabschüssen aus Gaza-Wohngebieten heraus und vermeldet auch, wenn die Hamas die eigene Bevölkerung trifft, indem sie etwa ein israelisches Elektrizitätswerk und damit den Strom für Zigtausende Palästinenser ausschaltet.

Auf der anderen Seite tobt auch bei den Palästinensern ein erbitterter Streit um Einfluss, seit sich die gemäßigte Fatah und die radikale Hamas auf mehr Kooperation verständigt haben. Die örtlich Verantwortlichen haben noch nicht erleben können, dass ihnen ein Verständigungskurs etwas bringt: Seit vielen Monaten sind die Gehälter Zehntausender Angestellter nicht bezahlt worden, liegen die sozialen wie hygienischen Bedingungen im Argen. Die massive Raketenattacke wirkt unter diesen Vorzeichen wie der verzweifelte Versuch, Israel zu Reaktionen zu nötigen und mit dem dadurch zugefügten Ausmaß an menschlichem Leid und zerstörter Infrastruktur von eigenen Fehlern ablenken zu können.

Nahost-Krise eskaliert: 25 Tote im Gazastreifen
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Wenig hilfreich sind die neuen Konstellationen im Nahen Osten. Das ägyptische Regime hat kaum noch Einfluss auf die Hamas, und das Vordringen der Islamisten im Irak und in Syrien lässt die Befürchtung wachsen, dass auch in den palästinensischen Gebieten noch schärfere Israel-Hasser Zulauf bekommen könnten.

Wer in dieser Situation von außen mit kühl kalkulierten Vorschlägen zu überzeugen sucht, muss stets auch im Hinterkopf haben, dass die Jugend seit vielen Jahren zu Hass erzogen wird. Palästinensische Schulbücher sind teilweise übler als alles, was im Westen als antisemitisch und rassistisch absolut indiskutabel ist. Zugleich leiden Palästinenser darunter, von Israelis selten auf Augenhöhe behandelt zu werden, mit dem Gefühl ständiger Erniedrigung aufzuwachsen.

"Ein Vermittler von außen kann hier nicht helfen", lautet die nüchterne Analyse von Michael Mertes, dem Chef des Israel-Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung. Einziger Ausweg wären Autoritäten, die den eigenen Leuten eindringlich sagten, dass Verachtung und Hass gegenüber der anderen Seite letzten Endes selbstzerstörerisch seien. "Doch solche Instanzen fehlen", stellt Mertes ernüchtert fest. Deshalb werde es auch kein Umdenken geben.

Für Steinmeier ist das kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken. Er wirbt derzeit leidenschaftlich für den Waffenstillstand als Chance. Denn er weiß, dass in der Vergangenheit ein solcher vorübergehend befriedender Zustand im zweiten oder dritten Anlauf erreicht werden konnte, wenn weitere Nebenabreden dazukamen. Die versucht er nun herauszufinden.

(may-)
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