Ukraine im Umbruch Timoschenko: Heilsfigur oder Racheengel?

Kiew/Düsseldorf · Julia Timoschenko ist die professionellste Politikerin der ukrainischen Opposition und für ihre Anhänger eine Ikone. Vielen Ukrainern gilt die 53-Jährige, die einst ein Vermögen im Gasgeschäft scheffelte, dagegen als geldgierige Egomanin.

Julia Timoschenko schwer gezeichnet vom Gefängnis
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Die Gesichtszüge verklärt, die Augen leicht zum Himmel gewendet, der blonde Haarkranz als Heiligenschein: Wie ein Engel blickt Julia Timoschenko auf den Maidan, den Unabhängigkeitsplatz im Zentrum von Kiew — von einem großen Plakat, dass jemand an einen Baum gehängt hatte. Das Bild zeigt eine Ikone. Fast wie eine Heilige wird die 53-Jährige von ihren Anhängern verehrt, mindestens aber als eine ukrainische Wiedergeburt der Johanna von Orleans, einer aufrechten Kämpferin für Demokratie.

Die Julia Timoschenko, die 100.000 Menschen dann am vergangenen Wochenende auf dem Maidan erleben, nur wenige Stunden nach ihrer Entlassung aus der Haft, gemahnt eher an einen Racheengel. Ganz in Schwarz, im Rollstuhl, das Gesicht aufgedunsen von den Medikamenten, die sie gegen die starken Rückenschmerzen nehmen muss, schwankt Timoschenko zwischen Rührung und Hass. Rührung angesichts der Opfer, die der Aufstand gefordert hatte. Und Hass auf den gestürzten Präsidenten Viktor Janukowitsch, ihren Intimfeind, der sie hinter Gitter gebracht hatte.

Welches ist das wahre Gesicht der Julia Timoschenko?

Für Timoschenko ist es ein Augenblick der grimmigen Genugtuung. Nun ist sie wieder obenauf — einmal mehr in ihrer Achterbahn-Karriere, die sie abwechselnd in die höchsten Sphären und dann wieder in den Abgrund geführt hat. Genauso zwiespältig wie ihr Leben verlief, ist heute auch das Urteil der Ukrainer. Während ein Teil ihrer Landsleute sie als Märtyrerin und Heilsbringerin überhöht — ein Image, das auch im Westen dominiert — verachtet sie ein anderer Teil der Ukrainer als manipulative und selbstsüchtige Politikerin mit zweifelhafter Vergangenheit.

Sie ist eine Kämpferin, soviel ist sicher. Ihre Kindheit verbringt Timoschenko in einem tristen sowjetischen Plattenbau. Der Vater lässt die Familie sitzen, die Mutter muss Julia alleine aufziehen. Sie ist gut in der Schule, kann ein Wirtschaftsstudium beginnen und macht dann als Geschäftsfrau eine steile Karriere. Ihre erste Firma, gegründet in den 80er Jahren, ist ein Videoverleih. Dann steigt Timoschenko ins Energiegeschäft ein. Im Wende-Chaos der 90er Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion schafft sie es an die Spitze des damals größten Gas-Konzerns der Ukraine und scheffelt dabei ein Vermögen. Aus dieser Zeit stammt der bitterböse Spitzname "Gas-prinzessin".

Dann entdeckt Timoschenko die Politik. 1996 wird sie ins Parlament gewählt, gründet kurz darauf ihre eigene Partei. 1999 wird sie Vize-Regierungschefin und legt sich mit einigen mächtigen Oligarchen an. Prompt lanciert die Justiz Ermittlungen gegen Timoschenko, wegen Urkundenfälschung und Schmuggels. Sie verliert ihren Regierungsposten und verbringt 42 Tage in U-Haft. Als sie das Gefängnis verlässt, wegen mangelnder Beweise freigesprochen, entdeckt die Ukraine eine neue Julia Timoschenko: In folkloristisch inspirierten Designer-Klamotten, das brünette Haar hellblond gefärbt und zur traditionellen Bäuerinnenfrisur geflochten, die ihre Abkehr von der Welt der korrupten Mächtigen signalisieren soll.

In Stichwahl gegen Janukowitsch unterlegen

Bei der Präsidentenwahl 2004 verzichtet Timoschenko zwar zugunsten des Oppositionspolitikers Viktor Juschtschenko auf eine Kandidatur. Aber sie ist schon damals die starke Frau im Hintergrund. Gemeinsam mit Juschtschenko führt Timoschenko die Protestbewegung gegen die dreiste Fälschung der Wahlergebnisse an — es ist die "Orange Revolution", die 2005 den angeblichen Wahlsieger, einen gewissen Viktor Janukowitsch, in die Knie zwingt. Juschtschenko wird Präsident, Timoschenko seine Premierministerin. Doch dann beginnt, was viele Ukrainer ihr bis heute nicht verzeihen mögen: quälendende Machtkämpfe zwischen den beiden Ex-Oppositionspolitikern, die das Land an den Rand des Chaos führen.

Bei der Präsidentenwahl 2010 kassiert Juschtschenko zuerst die Quittung für dieses Desaster und scheidet schon im ersten Wahlgang aus. In der Stichwahl unterliegt dann auch Timoschenko — und zwar Viktor Janukowitsch. Aber seine Rivalin hat fast die Hälfte der Stimmen bekommen, sie bleibt eine Gefahr für den neuen Mann an der Staatsspitze. Also wird wieder die Justiz bemüht.

Die Staatsanwälte wühlen in den alten Akten aus Timoschenkos Zeit als Vize-Regierungschefin und Energieministerin. Damals, so lautet dann kurz darauf die Anklage, soll sie eigenmächtig einen Gas-Deal mit Russland zum Schaden der Ukraine vereinbart haben. Im August 2011 wird Timoschenko verhaftet, bereits im Oktober wird sie wegen Veruntreuung zu einer langen Haft verurteilt. Ein politisch motiviertes Urteil.

"Ihr habt alles verändert"

In der Haft erkrankt Timoschenko, ein schmerzhafter Bandscheibenvorfall fesselt sie ans Bett. Sie muss dringend behandelt werden, möglichst außerhalb des Gefängnisses. Aber Präsident Janukowitsch verhindert jedes Zugeständnis an seine Intimfeindin. Diskret verhandeln deutsche Diplomaten über eine Verlegung Timoschenkos in die Berliner Charité. Vergeblich.

Als die Proteste gegen Präsident Janukowitsch immer stärker an Fahrt gewinnen, kann Timoschenko nur wenig Einfluss nehmen. Aber das ist auch gar nicht nötig. Als sie auf dem Maidan auftaucht, am Tag des Sieges über Janukowitsch, ist das Triumvirat aus Vitali Klitschko, dem Nationalisten Oleg Tjagnibok und Timoschenkos Vertrauten Arseni Jazenjuk, das über Monate dem Protest ein Gesicht gegeben hat, kaum noch zu sehen.

Die drei Politiker haben sich in den Augen vieler Ukrainer diskreditiert, weil sie mit Janukowitsch Vereinbarungen unterzeichneten, während dessen Scharfschützen Demonstranten zusammenschossen. "Ihr habt alles verändert", rief Timoschenko mit tränenerstickter Stimme der Menge auf dem Maidan zu. "Ihr — nicht die Diplomaten, nicht die Welt!"

(RP)
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